Prävention und Freiheit. Zur Notwendigkeit eines Ethik-Diskurses
6/7 Juni 2016
  • 2.580 Kongressteilnehmende und Besucher*innen davon 107 aus 42 Staaten

  • 194 Referierende
  • Abschlussvortrag „Autonomie – Zur Verteidigung der Freiheit“ von Prof. Dr. Harald Welzer
  • 10. Annual International Forum (AIF)
  • 144 Vortragsbeiträge (Einzelvorträge, Themenboxen, Projektspots)
  • 183 Ausstellungsbeiträge (Infostände, Infomobile, Sonderausstellungen, Poster)
  • Bühnenveranstaltungen und Schüleruniversität
  • Filmforum
  • 9 Begleitveranstaltungen
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Das weitläufige Ausstellungs- und Tagungszentrum der Messe Magdeburg mit der offenen Seebühne war Austragungsort des 21. Jahreskongresses am 6. & 7. Juni 2016. Das Schwerpunktthema lautete „Prävention und Freiheit. Zur Notwendigkeit eines Ethik-Diskurses“. Die Schirmherrschaft hatte der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Dr. Reiner Haseloff, inne. Im Magdeburger Maritim Hotel fand der Abendempfang statt.

Deutscher Präventionstag und Veranstaltungspartner
Magdeburger Erklärung des 21. Deutschen Präventionstages 
        

Als Rückblick wird die Kongresserklärung des 21. Deutschen Präventionstages hier dargestellt. Die Magdeburger Erklärung fasst die zentralen Diskussionspunkte und Forderungen der Veranstaltung prägnant zusammen.

Der Deutsche Präventionstag hatte schon in den Vorjahren immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass Kriminalprävention auch riskante Aspekte haben kann. Darunter sind insbesondere diejenigen Entwicklungen der Kriminalprävention bedenklich, die geeignet sind, die menschliche Handlungsfreiheit bedrohlich einzuschränken. Der Deutsche Präventionstag hat deshalb eine Diskussion des Themas „Präventionsethik“ für dringend erforderlich gehalten, darauf in seiner „Frankfurter Erklärung“ zum 20. Deutschen Präventionstages hingewiesen und nun „Prävention und Freiheit. Zur Notwendigkeit eines Ethik-Diskurses“ zum Schwerpunkthema des 21. Jahreskongresses gemacht.

Die Sprecherin des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Eberhard Karls Universität Tübingen, Professorin Dr. Regina Ammicht Quinn, hat im Vorfeld des Kongresses zusammen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Gutachten „Prävention und Freiheit. Zur Notwendigkeit eines Ethik-Diskurses“ erstellt.

Auf der Basis dieses Gutachtens sowie der Verhandlungen des 21. Deutschen Präventionstages erklärten der Deutsche Präventionstag und seine Veranstaltungspartner,

  • das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ),
  • der Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik (DBH),
  • das Land Sachsen-Anhalt,
  • die Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes (ProPK),
  • die Stadt Magdeburg,
  • die Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention (DFK) sowie
  • der WEISSE RING,

am 7. Juni 2016:

„Ethik als Perspektive auf Sicherheit und Prävention: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Das Gutachten stellt die vielfältigen Fragen nach Sicherheit und Prävention in den Kontext der Ethik.  „Ethik ist die kritische Reflexion und Analyse herrschender gelebter Moral ... Ethik ist eine Perspektive auf Sicherheit neben anderen Perspektiven,  aber eine entscheidende Perspektive: Denn sie stellt Sicherheit in den Kontext richtigen Handelns und guten Lebens.“ Sie stellt „eine doppelte Frage: Zum einen die Frage nach richtigem Handeln, vor allem in Konfliktsituationen, zum andern die Frage nach dem ‚guten Leben’, die immer wieder heißt: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“

„In den letzten Jahren ist in vielen Lebensbereichen eine Werteverschiebung hin zu ‚Sicherheit’ zu beobachten ... Sicherheit als Grundwert, der die politischen Debatten bestimmt, nimmt Einfluss auf die Lebensgestaltung.“

Dabei ist Sicherheit unter ethischer Perspektive „ambivalent: Zum einen ist Sicherheit ein hoher Wert, so dass die Herstellung von Sicherheit ethisch geboten ist. Ohne ein Grundmaß an Sicherheit ist keine Handlungsplanung möglich, keine grundlegende kulturelle Entwicklung, keine Gerechtigkeit.

Zum andern sind aber mit der Verfolgung des Zieles ‚Sicherheit’ häufig Einschränkungen auf anderen Gebieten verbunden,“ insbesondere mit Gütern wie Freiheit, Gerechtigkeit und Privatheit. „Im Versuch, jeweils mehr Sicherheit herzustellen ... (können diese) Güter verletzt oder eingeschränkt werden. Abwägungsüberlegungen fragen danach, welchen Preis – in Form von Geld, Freiheit, Gerechtigkeit oder Privatheit – wir bereit sind, für den Wert ‚Sicherheit’ zu bezahlen.“

„Die Produktion von Sicherheit ruft oft Nebenfolgen hervor, die einen negativen Einfluss“ auf das ‚gute Leben’ „ausüben und damit die Gesellschaft ... in eine weniger lebenswerte (aber dafür, widersprüchlicherweise mutmaßlich sicherere) verwandeln ... Sicherheitspolitik und Sicherheitsdenken, Sicherheitstechnologien und Sicherheitspraktiken – sie alle haben das Potential ... genau die Werte zu gefährden, die ursprünglich geschützt werden sollten.“

Damit – so das Gutachten – „lautet eine Faustregel für jedes Sicherheitshandeln: Die Lösung eines Problems soll nicht größere Probleme verursachen als ursprünglich vorhanden waren.“

Sicherheit und Prävention sind keine voneinander abweichenden Konzepte

„Die Herstellung von Sicherheit ist notwendigerweise immer präventiv, da auf die Verhinderung von zukünftigen Bedrohungen ausgelegt“ ... „Sicherheit ist die Prognose über zukünftige Unsicherheit und Prävention die daraus resultierende Handlung mit dem Ziel, diese zukünftige Unsicherheit zu unterbinden“ ... „Prävention ist damit gewissermaßen die notwendige Bedingung von Sicherheit  ... Es ist nicht die Frage, ob Prävention an sich richtig oder falsch ist, sondern die Frage, wie sich Prävention ... so gestalten lässt, dass sie möglichst wenige negative (Neben-)Folgen produziert.“

„Präventive Praktiken müssen“ – so das Gutachten – „in diesem Sinne also auf ihre sozialen Konsequenzen und (Neben-)Effekte hin untersucht werden: Im Hinblick auf mögliche Verletzungen von Menschen- und Bürgerrechten, Unterdrückung von ethnischen und ökonomischen Minderheiten, Gewalt und Diskriminierung.“ Das „Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Prävention (zeigt sich genau dann), wenn unter der Prämisse der Vermeidung von ungewollten Zukünften in der Gegenwart Handlungen legitimiert werden, die Menschen in ihrer Privat- und Intimsphäre und in ihrer Freiheit einschränken.“

Allerdings stehen „die meisten Begriffe von Sicherheit nicht in Konkurrenz zu einem bürgerrechtlichen Verhältnis zu Freiheit, sondern sind Bausteine einer sozialen Ordnung mit verteilten Rollen, Kompetenzen und Regeln, die letztlich für die Sicherheit der gesellschaftlichen Institutionen und jeder/s Einzelnen sorgt.“ Freiheitseinschränkende Maßnahmen „zum Ziel der Herstellung von Sicherheit (beziehen sich) auf ein bestimmtes umgrenztes, aber sehr dominantes  Feld“: Auf das „Feld der Prävention und der Abwehr von kriminellen und terroristischen Gefahren.“

Ein Gegengewicht hierzu und zugleich „bestimmender Beitrag zur Herstellung einer sicheren Gesellschaft“ können „demokratische Verfahren und die hiermit verbundene Werteordnung sein ... Demokratische Partizipation schafft Bindungen an Gemeinschaften, Personen und Werte, die zur Verhinderung von Kriminalität – und ... auch von Terror – einen wichtigen Beitrag leisten.“

Mit dem Konzept der Kommunalen Kriminalprävention, der „Stärkung kommunaler und bürgerschaftlicher Elemente“, nimmt „die Kriminalprävention Überlegungen zur Verwirklichung von Demokratie in ihre Konzepte auf ... Teilhabe an demokratischer Verantwortung bedeutet immer auch Einbindung in soziale Gemeinschaften.“ „Partizipation schafft Sicherheit.“ Und auch wenn „eine im vollen Wortsinne partizipative Prävention von Unsicherheit selbst immer mit der Unsicherheit politischer und gesellschaftlicher Konflikte belastet sein wird“, lohnt es „sich, dieses Risiko einzugehen.“

Beitrag der Prävention zur Integration

Diese Aussagen des Gutachtens bestärken den Deutschen Präventionstag in seiner Einschätzung der Kommunalen Kriminalprävention als einer „Idee von bestechender Vernünftigkeit“. Deswegen hält er an seiner Zielvorstellung fest (siehe dazu die Karlsruher Erklärung des 19. Deutschen Präventionstages), dass Politik und Praxis aufgefordert sind, entsprechende Gremien einzurichten. Sie sollten flächendeckend und auf eine institutionalisierte Sicherheitspolitik hin ausgerichtet sein. Beispiele dafür sind „Stabsstellen für Kriminalprävention“ oder ressortübergreifende und interdisziplinäre Präventionszentren.

Diese Forderung gewinnt vor dem Hintergrund des Anstiegs der Zahl von Schutzsuchenden seit Beginn des Jahres 2015 noch erheblich an Bedeutung. Denn zum einen stehen vor allem die Kommunen vor der Aufgabe, die Integration dieser mehr als einer Million Menschen zu bewältigen, da das Zusammenleben der Menschen vor Ort, in den Städten und Gemeinden stattfindet. Zum andern kann – und muss deshalb auch – Prävention zur Bewältigung dieser Aufgabe einen wichtigen Beitrag leisten.

Wieso das so ist, stellt bereits die „Hannoveraner Erklärung“ des 12. Deutschen Präventionstages 2009 zum Schwerpunktthema „Solidarität leben – Vielfalt sichern“ fest: „Wenn Kriminalprävention auf Inklusion, auf soziale Teilhabe und Partizipation gerichtet ist, den öffentlichen Raum sichert und das Sicherheitsgefühl verbessert, dann ist und schafft sie auch soziales Kapital: Eine Atmosphäre der Solidarität, der Zugehörigkeit und des sozialen Vertrauens, der Verlässlichkeit der gemeinsam geteilten Regeln, Normen und Werte und nicht zuletzt des Vertrauens in die Institutionen des Staates.

Dadurch leistet Kriminalprävention einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Gewährleistung von Vielfalt, gerade in ‚unsicheren Zeiten’. Es geht namentlich darum, die Pluralität sozialer sowie ethnisch-kultureller Gruppierungen, Lebensstile, Verhaltensweisen, Werte und Normen zu sichern.“

In Anbetracht der derzeitigen Entwicklung mit ihren gewaltigen Aufgaben ist auch der Appell des 12. Deutschen Präventionstages „an die Verantwortlichen in der Politik, in den Medien sowie zivilgesellschaftlichen Gruppierungen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene“ äußerst aktuell, nämlich „den Beitrag der Kriminalprävention zu sozialer Teilhabe, Integration und Solidarität wahrzunehmen, zu würdigen und diesen bewährten Weg der Verdeutlichung gesellschaftlich verbindlicher Normen und Werte zu unterstützen und auszubauen.“

Neben diesen grundsätzlichen, für die Integration relevanten Merkmalen der Prävention gehört weiter zu ihrer Leistungsfähigkeit, dass Präventionsarbeit – zumindest auf der kommunalen Ebene – seit Jahrzehnten gesamtgesellschaftlich, ressortübergreifend und interdisziplinär angelegt ist sowie auf erprobte Konzepte und Maßnahmen zurückgreifen kann.

Mit dem Ziel der Integration von Flüchtlingen gibt es bundesweit bereits eine Vielzahl von Projekten und Initiativen, auch und gerade auf kommunaler Ebene. Zum einen richten sie sich darauf, den Flüchtlingen ganz konkret zu helfen – durch Spracherwerb, Arbeitsmarkteingliederung, Bildung etc. Zum andern aber – und das ist an der Schnittstelle der Prävention zur Integration besonders wichtig – zielen sie als universell ausgerichtete Strategien der Prävention darauf ab, Vorurteile, Ängste, Befürchtungen oder auch Ablehnung und Feindseligkeit abzubauen und ein gesellschaftliches Miteinander herzustellen.

Prävention durch direkt und indirekt wirkende (kriminal-)präventive Strategien, Programme und Maßnahmen

Prävention kann diesen Beitrag zur Integration vor allem dann leisten, wenn Sicherheitsfragen und soziale Fragen bewusst getrennt werden. Wie vom Deutschen Präventionstag bereits mehrmals gefordert, sollte zwischen direkt und indirekt wirkenden (kriminal-)präventiven Strategien, Programmen und Maßnahmen unterschieden werden:

Direkte kriminalpräventive Strategien, Programme und Maßnahmen zielen durch verhaltensorientierte und sicherheitstechnische Maßnahmen auf die Beeinflussung von Personen und Situationen mit dem Ziel, das Risiko zu vermindern, dass (wieder) Straftaten begangen und Menschen (wieder) zu Tätern oder Opfern von Kriminalität werden. Ein Beispiel dafür ist die Verhinderung bzw. Verminderung von Wohnungseinbrüchen durch die Förderung richtigen – sicherheitsbewussten – Verhaltens und den Einsatz (bereits einfacher) sicherheitstechnischer Maßnahmen.

Indirekte präventive Strategien, Programme und Maßnahmen etwa der Jugend-, Familien-, Gesundheits-, Sozial-, Bildungs- oder Arbeitsmarktpolitik, haben zwar nicht das Ziel und die Motivation, kriminalpräventiv zu wirken, sind aber für die Kriminalprävention unverzichtbar. Denn eine sozialstaatliche Absicherung der verschiedenen sozialen Risiken kann dabei helfen, Kriminalität und Kriminalitätsfurcht entgegen zu wirken. Kriminalpräventive Arbeit kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie in eine sozial gerechte Gesellschaftspolitik – Lebenslagenpolitik – eingebettet ist.

Wegen dieser engen Zusammenhänge und Verflechtungen zwischen direkt und indirekt wirkenden (kriminal-)präventiven Maßnahmen wiederholt der Deutsche Präventionstag seine Forderung nach der Entwicklung integrativer Präventionsstrategien, nach einer Zusammenarbeit aller Akteure der Prävention: Von zivilgesellschaftlichen Einrichtungen, von Jugendhilfe, Polizei und Justiz, von Bildungs- und sozialpolitischen Einrichtungen, der Bereiche Public Health, Medien, Wirtschaft etc.

Mit diesen Aufgaben und Zielen sollten nach Auffassung des Deutschen Präventionstages ressortübergreifende Präventionszentren auf allen politischen Ebenen eingerichtet werden, in den Kommunen, in den Bundesländern und auf der Ebene des Bundes. Alle Präventionsbereiche könnten im Rahmen solcher Präventionszentren effektiv zusammenarbeiten und die Grundlage für eine  systematische, gesamtgesellschaftliche und insbesondere nachhaltige Präventionsstrategie und Präventionspolitik legen. Der Deutsche Präventionstag regt an, entsprechende Modellprojekte zu erproben und – etwa für die kommunale Ebene – Fördermittel bereitzustellen.

Magdeburg, 7. Juni 2016“