02. Zwischenruf: Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Klaus Wahl

Erich Marks
DPT – Deutscher Präventionstag
Prof. Dr. Klaus Wahl
Initiative Gesamtgesellschaftliche Gewaltprävention (IGG)

Heute ist Montag, der 23. März 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Prof. Dr. Klaus Wahl. Herr Wahl ist Aggressionsforscher, hat über viele Jahrzehnte zahlreiche empirische Studien durchgeführt und war u.a. wissenschaftlicher Stabschef im Deutschen Jugendinstitut. Er versteht sich als Brückenbauer zwischen Naturwissenschaft und Sozialwissenschaften.
Herr Wahl, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie direkt fragen, welche Präventionsfragen ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

Krisenzeiten wie jetzt beim Coróna-Virus erzeugen bei vielen Menschen Furcht und Angst. Solche Emotionen können dann unterschiedliche Verhaltensreaktionen auslösen. Es können schädliche Reaktionen sein wie Aggression oder nützliche wie die Hilfe für andere. Die Kernfrage ist dann: Wie kann man die Chancen für Aggression vermindern?

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Ich will jetzt gar nicht auf die aktuellen, unmittelbaren Probleme eingehen, etwa von Familien, die sich eingesperrt fühlen, aggressiv werden können und denen man helfen muss. Dazu äußern sich ja andere Experten. Aber man hört ja oft, jede Krise biete auch eine Chance. Daher möchte ich den Blick darauf lenken, was man aus der Coróna-Krise für die Zukunft ableiten kann. Es ist ja abzusehen, dass es weiter Wirtschaftskrisen, Globalisierungskrisen, die Klimakrise usw. geben wird.

Vor dem Blick in die Zukunft aber zunächst ein kurzer Blick in die Vergangenheit: In der langen Zeit der Evolution haben Menschen typische Formen entwickelt, auf bedrohliche Situationen zu reagieren. Gefahren lösen Emotionen wie Furcht oder Angst aus. Diese Emotionen wiederum motivieren zu einer Reihe von Verhaltensweisen, um der Gefahr zu entgehen oder sie real oder auch nur scheinbar zu bewältigen. Wie heftig diese Emotionen empfunden werden und welches Verhalten sie genau auslösen, hängt aber auch stark von der Persönlichkeit der einzelnen Menschen ab. Solche Reaktionen sind z. B.:

  • Egoismus (zur Sicherung des eigenen Überlebens), etwa beim Hamstern von Lebensmitteln oder Stehlen von Gesichtsmasken.
  • Eine andere Reaktion ist Aggression, wenn eigene Bedürfnisse frustriert werden (z. B. wenn man plötzlich ohne Arbeit in einer engen Wohnung verbringen muss, wo die Kinder oder der Partner stören; oder denken wir an Jugendliche, die mit anderen ausgehen wollen, aber eingesperrt sind und deswegen wütend werden).
  • Gefahrensituationen können aber auch den Zusammenhalt einer Gesellschaft nach innen fördern, allerdings auch oft begleitet von Abgrenzung nach außen (nationalistische Gefühle), und oft wiederum verbunden mit
  • einer Sündenbocksuche zur Entlastung der eigenen Verantwortung (am Beginn der Corona-Epidemie in Deutschland flammten alte Vorurteile gegen Chinesen auf; danach gab Donald Trump den Europäern die Schuld, den Virus nicht vor seiner Reise nach Amerika gestoppt zu haben).

Doch etliche Personen zeigten auch positive Reaktionen:

  • Etwa Altruismus bei der Hilfe für Risikopersonen (Alte, Kranke).
  • Es zeigte sich auch Solidarität mit ansonsten schlecht bezahlten Berufsgruppen (Krankenschwestern).

Es gibt also für das gesellschaftliche Leben negative und positive Reaktionen auf Gefahren. Und die sind u. a. von den einzelnen Persönlichkeiten abhängig.

Ich möchte daher jenseits der natürlich notwendigen aktuellen Präventions- und Interventionsmaßnahmen die jetzige Krise auch als Chance nutzen und fragen, wie wir Menschen darauf vorbereiten können, für künftige Krisen besser gewappnet zu sein.

Neben Gesundheitspolitik, Katastrophenschutz, Klima-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik wäre eine wichtige Präventionsmaßnahme, Menschen selbst zu Persönlichkeiten zu verhelfen, die mit Stress und Herausforderungen produktiver umgehen können - das Stichwort hierzu ist Resilienz, also die Fähigkeit, Krisen und Stress zu bewältigen. Wie die Forschung zeigt, beginnt die Entwicklung jeder Persönlichkeit früh, mit den elterlichen Genen, epigenetischen Prozessen, durch Einflüsse während der Schwangerschaft und in der Kleinkindphase. Hier entscheidet sich schon weitgehend, ob Kinder zu resilienten Persönlichkeiten werden und ob sie mutig oder ängstlich werden, sich Risiken stellen oder aus dem Weg gehen, friedlich oder aggressiv sind. Eine positive Entwicklung kann man durch frühe Hilfen in Familien, vor allem aber auch in Kitas und Grundschulen fördern, durch Entlastung und Beratung für Eltern, spezifische sozialpädagogische Angebote in den Kitas zur Förderung entsprechender Kompetenzen bei Kindern usw. – auch als Beitrag zur Prävention späterer Gewalt im Jugend- und Erwachsenenalter.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen.

Ich denke angesichts der uns alle sehr bis extrem belastenden Corona-Krise nicht nur an jetzt unmittelbare Maßnahmen für die aktuellen Herausforderungen. Sondern ich versuche, schon eine Lehre aus der Krise für die Zukunft zu ziehen: Wie kann Prävention – neben vielen anderen notwendigen politischen Schritten – Menschen darauf vorbereiten, mit Krisen produktiver und friedlicher umzugehen, statt gewalttätig zu werden. Das beginnt beim Kind und seiner Persönlichkeitsentwicklung – und auf die können wir Einfluss nehmen. Das wäre ein erster, wichtiger, strategischer Schritt einer umfassenden gesamtgesellschaftlichen Gewaltprävention, wie sie auch schon in einer Initiative des Deutschen Präventionstags diskutiert wird.

Herr Professor Wahl, ich sage herzlich Danke für Ihren heutigen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Prof. Dr. Klaus Wahl
Psychosoziale Analysen und Prävention - Informations-System (PAPIS), München
https://klauswahl.hpage.com/

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