20. Zwischenruf: Erich Marks im Gespräch mit Prof Dr. Helmut Fünfsinn
Heute ist Donnerstag, der 30. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Prof. Dr. Helmut Fünfsinn. Herr Fünfsinn ist Vorsitzender des Hessischen Landespräventiosrates und Beauftragter der Hessischen Landesregierung für die Opfer von Terroranschlägen und schweren Gewalttaten. Im Hauptamt war Herr Professor Fünfsinn über Jahrzehnte in verschiedenen Leitungspositionen der Hessischen Justiz tätig, zuletzt als Hessischer Generalstaatsanwalt.
Herr Fünfsinn, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Präventionsarbeit ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.
Die aktuell für die Eindämmung der Pandemie notwendigen Maßnahmen der Kontaktreduzierung gehen mit einer Erhöhung von psychosozialen Belastungsfaktoren für die Bevölkerung einher. Häusliche Isolation, Sorgen um Gesundheit und Beruf, finanzielle Nöte, fehlende Kinderbetreuung, steigender Alkoholkonsum, das Fehlen von sozialer Unterstützung und viele weitere Aspekte können zu einer Verschärfung von Konflikten führen. Konfliktreduzierende Faktoren, wie etwa eine räumliche Distanzierung, die zu einer Unterbrechung eskalierender Dynamiken führen können, sind derzeit kaum oder nur sehr eingeschränkt gegeben. Die COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen erheblichen Einschränkungen für die Bevölkerung (Kontaktverbote, Quarantäne etc.) stellen daher auch an die Präventionsarbeit neue Anforderungen. Eine abgestimmte, ressortübergreifende Präventionsarbeit unter Einbindung aller relevanter Akteure - auch auf kommunaler Ebene - mit dem Ziel, wirksame Maßnahmen zu entwickeln, ist in solchen Zeiten wichtiger denn je. Es bedarf jetzt phantasiereicher und intelligenter Lösungen, um besonders vulnerable Gruppen, wie Kinder, Frauen und ältere Menschen, die besonders stark von der derzeitigen Situation betroffen sein dürften und unter ihr leiden, zu unterstützen.
Was ist das zentrale Anliegen bzw. die zentralen Punkte Ihres heutigen Zwischenrufs?
- Kinderschutz:
Insbesondere der Kinderschutz sollte in der aktuellen Präventionsarbeit eine ganz maßgebliche Rolle spielen: In vielen Diskussionen entstand zunächst der Eindruck, die Belange von Kindern würden nicht in ausreichendem Maße Berücksichtigung finden. Natürlich musste und muss es auch jetzt in erster Linie darum gehen, die Verbreitung des Corona-Virus einzudämmen und Menschenleben zu schützen. Aber eine so rigorose Einschränkung des öffentlichen Lebens, wie wir sie derzeit erleben, birgt Risiken und kann negative Auswirkungen auf Familien und speziell für Kinder zur Folge haben. Denn mit der Zeit werden die Belastungen schwerer, Spannungen nehmen zu. Die aktuellen Lebensbedingungen in vielen Familien können aggressionsauslösend wirken und in ohnehin bereits dysfunktionalen Familienstrukturen die Anwendung von Gewalt jeglicher Form zusätzlich triggern. Wenn es um Lockerungen geht, sollten daher unbedingt auch hier schrittweise Erleichterungen erwogen werden, um den Familien eine Perspektive zu eröffnen. Gesundheitsschutz muss zweifelsohne eine hohe Priorität genießen - aber eben auch das Kindeswohl. Denn Kinderschutz ist langfristig auch Gesundheitsschutz. Viele Kinder leiden gerade sehr, da sie wenig Bewegungsmöglichkeiten haben, nicht auf den Spielplatz dürfen, ihren Sport im Sportverein nicht ausüben dürfen, keine Freunde treffen, Oma und Opa nicht besuchen dürfen. Gerade in großen Städten, wo die Wohnverhältnisse oft sehr beengt sind, kann sich das extrem belastend auswirken. Die psychosozialen Stressoren in den Familien sind dann erhöht und können eine Steigerung des Gewaltrisikos bedingen. Die starke Einschränkung der sozialen Kontrolle und der persönlichen Schutzräume (Arbeit, Schule, Betreuung, Hilfeeinrichtungen) führen wiederum zu einem geringeren Entdeckungsrisiko. Die Meldung eines gewalttätigen Übergriffs bzw. der Kontakt zu Hilfeeinrichtungen kann zudem erschwert sein, da Telefonanrufe aufgrund der permanenten räumlichen Nähe gar nicht geführt werden können. Oder es wird von den Betroffenen aufgrund von Angst vor einer Ansteckung keine medizinische oder psychosoziale Hilfe aufgesucht.
Prof. Dr. Maud Zitelmann hat als Mitglied der Arbeitsgruppe Kinderschutz des hessischen Landespräventionsrats in einem an das zuständige Fachreferat im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration gerichteten Schreiben auf die heikle Situation von gefährdeten Kindern und Jugendlichen aufmerksam gemacht, auch im Hinblick auf die Gefahr einer Zunahme von häuslicher und sexualisierter Gewalt. Sie äußerte ihre Sorge vor allem wegen der Isolation der Kinder in den Familien sowie der deutlichen Absenkung fachlicher Standards in der Jugendhilfe infolge der Corona-Krise. Die zentrale Aussage Ihres Schreibens: Kinderschutz muss systemrelevant sein. Ambulante Hilfen für Familien und die Schulbegleitung dürften nicht unter pauschalem Verweis auf die Gefährdung der Allgemeinbevölkerung eingestellt werden. Die Besuche durch sozialpädagogische Familienhelfer/-innen dürften nicht wie vielerorts ausbleiben, sondern müssten sogar intensiviert und unter Beachtung des Infektionsschutzes ausgebaut werden. Mit einem entsprechenden Appell, der von Prof. Dr. Maud Zitelmann und zwei ihrer Kolleginnen, Dr. Carola Berneiser, Frankfurt University of Applied Sciences, und Prof. Dr. Kathinka Beckmann, Hochschule Koblenz, die in Studiengängen der Sozialen Arbeit und Pädagogik lehren und wissenschaftlich zum Fachgebiet Kinderschutz arbeiten, initiiert wurde, wandten sich über 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Öffentlichkeit, um Ihrer Besorgnis Ausdruck zu geben.
Seitens des Hessischen Sozialressorts wurde versichert, die Vielzahl der Akteure auf diesem Arbeitsfeld in Hessen seien intensiv damit befasst, sich mit diesen Herausforderungen auseinanderzusetzen und - für eine zunächst zeitlich beschränkte Zeit des "Lock-downs" - geeignete Lösungen zu finden, ihre Aufgaben bedarfsgerecht weiter umsetzen zu können. Insbesondere wurde in diesem Zusammenhang auf den hohen Einsatz der Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe hingewiesen - ein Aussetzen ihrer Tätigkeit und eine höhere soziale Distanz zum Schutz vor Infektionen seien auch unter den gegebenen Bedingungen in der Kinder- und Jugendhilfe meist nicht oder nur in eingeschränktem Umfang möglich.
- Häusliche Gewalt
Die gegenwärtige Situation von verstärkter häuslicher Isolation kann darüber hinaus einen Anstieg von häuslicher Gewalt und Missbrauch in Familien an sich auslösen. Unterstützungsangebote können hier helfen, interpersonale Konflikte zu entschärfen und gewaltfreie Kommunikationen zu ermöglichen.
Vor diesem Hintergrund haben die Hessische Ministerin der Justiz, Eva Kühne-Hörmann, und der Hessische Minister für Soziales und Integration, Kai Klose, in einer gemeinsamen Presseerklärung auf die von der hessischen Landesregierung initiierten zahlreichen Maßnahmen hingewiesen, die dem Schutz vor Gewalt in der Partnerschaft und sexualisierter Gewalt, aber auch dem Schutz von Kindern dienen.
Justizministerin Kühne-Hörmann hob hervor, dass in Hessen Gewalt – insbesondere gegen Frauen und Mädchen - nicht hingenommen werde und bat die Menschen um besondere Achtsamkeit und Sensibilität in diesen Tagen. Sie wies zudem darauf hin, dass der Schutz von Opfern häuslicher Gewalt zu den Kernaufgaben der Justiz zähle und Familiengerichte für Gewaltschutzanträge stets erreichbar seien. Die Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt war zuvor darauf aufmerksam gemacht worden, dass einzelne Rechtsantragstellen geschlossen und somit für die mitunter notwendige Beantragung eines Beratungsscheines nicht erreichbar seien. Aufgrund des ressortübergreifenden, umsichtigen Kontakts sowie sofortigen Handelns der relevanten Akteure, wurde dieser Zustand umgehend behoben.
Die hessische Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt und der Landespräventionsrat stehen aktuell in intensivem Austausch mit dem Sozialressort (Fachreferat Jugend, Jugendhilfe, Prävention und Schutz vor Gewalt), dem Hessischen Landeskriminalamt und den zuständigen Koordinierungsstellen der anderen Bundesländer im Hinblick auf erforderlich werdende Maßnahmen (z.B. Schaffung von Notunterkünften, Apotheken als Notkontaktstellen). Die telefonische und die Online-Erreichbarkeit von Beratungsdiensten und Frauenhäusern werden fortlaufend gestärkt. Die Frauenhäuser stehen überdies mit dem Land und den Kommunen im intensiven Austausch darüber, wie sie den Bedarf an Neuaufnahmen von Frauen und Kindern unter Einhaltung der notwendigen hygienischen Schutzmaßnahmen gerecht werden können. Hierbei spielen sowohl die Jugendämter als auch die Gesundheitsämter vor Ort mit Blick auf den Kinderschutz und die Unterstützung von durch Gewalt belasteten Müttern eine wichtige Rolle. Die bisherigen Rückmeldungen aus dem Frauenunterstützungssystem zu einer Umfrage des Fachreferats im Sozialministerium zeigen, dass lokal bereits alternative Unterbringungsmöglichkeiten bereitstehen, um dem zu erwartenden Anstieg von Gewaltfällen begegnen zu können. Die Unterbringungsmöglichkeiten für gewaltbetroffene Frauen in dieser Situation müssen dabei in unmittelbarer und erreichbarer Nähe zu den Frauenhäusern angesiedelt sein, um den erforderlichen Schutz, die notwendige Unterstützung und den gebotenen Kontakt zu den von Gewalt betroffen Frauen mit ihren Kindern durch die Mitarbeiterinnen gewährleisten zu können.
- Häusliche Pflege älterer Menschen
Die Prävention muss in Zeiten der Pandemie jedoch auch den Blick auf ältere Menschen richten, die ebenfalls in besonderem Maße von den aktuellen Maßnahmen betroffen sind.
Die stellvertretende Vorsitzende des Landespräventionsrates, Frau Prof. Dr. Dr. Zenz, hat ebenfalls einen dringenden Appell verfasst, um auf das Thema häusliche Gewalt in der Pflege aufmerksam zu machen, welches sich durch die mittlerweile fast flächendeckend bestehenden Besuchsverbote noch verschärft haben dürfte. Die Kontaktsperre führt dazu, dass viele Unterstützungsmöglichkeiten (durch Hilfspersonen im Alltag) wegfallen. Auch die gesetzlich vorgesehenen Beratungsangebote finden in Zeiten der Pandemie nicht mehr persönlich, sondern nur noch telefonisch statt. Ebenso werden die obligatorischen Pflegeberatungseinsätze nach § 37 Abs. 3 SGB XI bis zum 30. Juni 2020 ausgesetzt. Die Feststellung oder Höherstufung der Pflegebedürftigkeit wird nun in digitaler Form vorgenommen. Pflegende Angehörige und Pflegebedürftige werden noch stärker isoliert, da Enkel, Urenkel, Kinder, Geschwister nicht mehr zu Besuch kommen sollen. Im Ergebnis führten diese Maßnahmen zu einer vollständigen Isolierung des Pflegebedürftigen und des pflegenden Angehörigen, womit erhebliche Einbußen des alltäglichen Lebens einhergehen und die ohnehin schwierige Pflegesituation erschwert wird und es infolgedessen zu Schuldzuweisungen, zu Aggressionen und letztlich zu gewalttätigen Übergriffen kommen könne. Um den Schutz der Betroffenen umfassend zu gewährleisten, und eben nicht nur die Risiken einer Infektion mit COVID-19 zu verhindern, sind öffentliche Kampagnen zum Schutz vor Gewalt in der häuslichen Pflege zu erwägen, um Verständnis für die Situation der Betroffenen zu signalisieren und vor allem Wertschätzung – nicht nur gegenüber den professionellen Pflegekräften, sondern auch gegenüber den pflegenden Angehörigen - zum Ausdruck zu bringen.
Auf Beratungsstellen wie „Pflege in Not“, welche sich auf das Thema häusliche Gewalt in der Pflege spezialisiert haben, sollte bundesweit aufmerksam gemacht werden. Gegebenenfalls wäre dies auch der richtige Zeitpunkt, um über die Errichtung einer deutschlandweit einheitlichen Pflegenotrufnummer nachzudenken. Der hessische Landespräventionsrat fordert bereits seit Langem die Errichtung von gut ausgestatteten Stellen für Landespflegebeauftragte zur Ergänzung des bestehenden Pflege- und Betreuungssystems. Bei der Verhinderung von Überforderung kommt entlastenden Hilfen eine zentrale Rolle zu. Diese Angebote gilt es bekannter zu machen sowie Hemmschwellen zur Inanspruchnahme von entlastenden Hilfen abgebaut werden. Ambulanten Hilfen im Pflegebereich müssten allerdings gerade in den Zeiten der Pandemie ausgebaut und nicht abgebaut werden.
Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen:
Die Präventionsarbeit wird in Zeiten der COVID-19- Pandemie vor neue Herausforderungen gestellt. Es zeigt sich noch mal mehr, wie wichtig ein ressortübergreifendes und abgestimmtes Vorgehen ist, um zeitnah Lösungen anbieten und Maßnahmen umsetzen zu können, um besonders vulnerable Gruppen auch in schwierigen Zeiten erreichen und schützen zu können. Der Landespräventionsrat Hessen und die Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt stehen insoweit – auch länderübergreifend - in einem sehr intensiven Austausch mit anderen Ressorts und Gremien.
Herr Fünfsinn, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.
20. Zwischenruf: Erich Marks im Gespräch mit Prof Dr. Helmut Fünfsinn (YouTube) (Deutsch, YouTube-Video) |