19. Zwischenruf: Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Heinz Cornel

Erich Marks
DPT – Deutscher Präventionstag

Heute ist Donnerstag, der 23. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Juristen, Pädagogen und Kriminologen Prof. Dr. Heinz Cornel aus Berlin. Herr Cornel hat bis 2019 Professor und Prorektor an der Alice Salomon Hochschule. Im Nebenamt war Herr Cornel Präsident des DBH-Fachverbandes und ist seit  mehr als 40 Jahren aktiv in der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen.

Herr Cornel, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.
Ich will heute nicht vorrangig über die Coronakrise sprechen, sondern auf die Notwendigkeit einer Handlungskonzeption für eine nachhaltige Gewaltprävention hinweisen. Bekanntlich haben wir in den letzten Jahrzehnten in Deutschland wichtige Schritte in der Prävention von Kriminalität und Gewalt gemacht, aber bisher ist es nicht gelungen, eine gesamtgesellschaftliche Strategie zur Prävention von Gewalt und ein positives Narrativ für das friedliche Zusammenleben aller Menschen zu entwickeln. Die Kompetenzen von Polizei und Strafjustiz sind von großer Bedeutung, aber es bedarf einer abgestimmten Strategie, die nicht nur die Verbote des Strafrechts in den Blick nimmt, sondern positiv respektvolles Zusammenleben, Gesundheit und Sicherheit für alle Menschen als nachhaltige Gewaltprävention sich nicht nur zum Ziel setzt, sondern in strategisches Handeln in allen gesellschaftlichen Bereichen umsetzt. Darauf hatte der Neuköllner Aufruf während des letzten Präventionstages in Berlin bereits hingewiesen und dies auch der Bundesregierung vorgetragen.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufs?
In diesem kurzen Zwischenruf kann ich natürlich nicht konzeptionell einerseits breit und doch andererseits konkret über solche gesamtgesellschaftliche Strategien sprechen. Ich will stattdessen – nun doch mit Bezug zur Pandemie – zwei aktuelle Problematiken benennen, die im breiten Spektrum von Maßnahmen zur Kriminal- und Gewaltprävention äußere (frühe und späte) Positionen darstellen. Als Diplompädagoge schaue ich auf Lebenswelten von Kindern und als Strafrechtler mit dem Schwerpunkt Strafvollzug, Straffälligenhilfe und Resozialisierung auf die Situation in den Gefängnissen – vielleicht ist die Auswahl dann doch nicht ganz zufällig.
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie treffen Kleinkinder in schwierigen sozialen Lagen und Strafgefangene in besonderer Weise, das heißt, dass sich ihre vorhandenen Probleme noch verschärfen und deshalb besondere Aktivitäten zur Prävention notwendig sind.
Wenn Kinder keine Kindertagesstätten mehr besuchen können und teils mit überforderten Eltern in engen Wohnungen viele Wochen ununterbrochen verbringen, dann sind sie – darauf wurde in den letzten Monaten immer wieder hingewiesen - verstärkt Kindeswohlgefährdungen ausgesetzt, zumal auch die soziale Kontrolle verringert ist. Zweifellos muss der Kinder- und Jugendschutz gewährleistet sein -  das setzt Kenntnis von konkreten Gefährdungen voraus. Darüber hinaus werden aber Kinder in den Wohnungen auch Zeugen von häuslicher Gewalt gegen LebenspartnerInnen und lernen daraus an negativen Vorbildern. Sie können zur gleichen Zeit nicht im Umgang mit anderen Kindern in der Tagesstätte gewaltlose Konfliktschlichtung lernen und die Vermittlung anderer Bilder von Männlichkeit erfahren. Es ist zu befürchten, dass all dies nicht nur aktuelle Gewalterfahrungen für diese Kinder mit sich bringt, sondern auch späte Folgen hinsichtlich häuslicher Gewalt und gewalttätiger Erziehungsstile für die nächste Generation.

Welche spezifischen Probleme sehen Sie aktuell im Strafvollzug?
Hinsichtlich der Gefangenen ist zu befürchten, dass ein Ausbruch der Erkrankung in einer JVA angesichts der engen Belegung eine unabsehbare Gefährdung sowohl der Gefangenen als auch der Bediensteten mit sich bringen könnte. Die erforderlichen Abstands- und Hygienemaßnahmen müssen unbedingt eingehalten werden, was in vielen Anstalten kaum möglich ist. Die Reduzierung der Außenkontakte und insb. der Besuche ist verständlich und sinnvoll, für die Gefangenen muss das aber wie eine zusätzliche Strafverschärfung erscheinen. Dies erfordert die Reduzierung der Belegungszahlen durch Aufschub der Ladung zum Strafantritt, soweit irgend vertretbar; keine Ladung zur Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen; möglicherweise auch eine Art „Corona-Amnestie“ bei kurzen Strafresten vergleichbar den Weihnachtsamnestien, die ja auch eigentlich Gnadenerweise sind.
Außerdem ist an einen verbesserten Zugang zu Telefonen oder auch zu Videogesprächen über Skype und vergleichbare Programme während der Zeit der Besuchseinschränkungen zu denken. Wenn immer die Gefangenen das wünschen, sollte auch das Schreiben von Briefen unterstützt werden. Schließlich ist für alle Gefangenen sicherzustellen, dass sie trotz der Restriktionen, unter Wahrung des empfohlenen Abstands von 1,50 m zwischen den Gefangenen genügend Zeit außerhalb der Hafträume und an der frischen Luft verbringen können. Dabei geht es um die Gesundheit der Gefangenen und damit ihre Menschenwürde. Der Respekt davor ist aber auch ein Beitrag zur Resozialisierung und damit zur Kriminalprävention. Die Straffälligkeit eines Menschen darf nicht zu einem verringerten Schutz vor dem Coronavirus führen - auch das ist Ausdruck der verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen:
Mir ist wichtig, dass Kriminal- und Gewaltprävention nachhaltig betrieben wird und einer gesamtgesellschaftlichen Strategie bedarf. Angesichts der Coronapandemie habe ich auf zwei Gruppen hingewiesen, die von den Einschränkungen ganz besonders betroffen sind: Kinder, die in ihren Familien von Gewalt bedroht sind und Gefangene, die in engen Gefängnissen zum einen von Infektionen bedroht und zum anderen ihrer sozialen Kontakte durch Besuche in besonderer Weise beraubt sind. Gerade in Zeiten, in denen viele Menschen von ungewohnten Einschränkungen betroffen sind, sollte an Bevölkerungsgruppen mit besonderen Problemen gedacht werden – um ihrer selbst, der Menschenwürde und auch um der Kriminal- und Gewaltprävention willen.
Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken anfügen, der hier nicht ausgeführt werden kann, der sich aber weitgehend selbst erklärt und mir sehr am Herzen liegt: Wir führen zurzeit auf vielen unterschiedlichen Ebenen - vom Bundestag über Experten-Hearings bis zum Nachbarschaftsgespräch - Diskurse über die Priorität von lebensrettenden Maßnahmen vor allen wirtschaftlichen Überlegungen. Ich hoffe sehr, dass eine neue Sensibilität und ein höheres Niveau der Reflexion über den Wert eines jeden Lebens sich auch international auf die Leben und Gewaltprävention für geflüchtete Menschen auf Lesbos, in Libyen und allen Kriegsgebieten beziehen.

Herr Cornel, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Zitation

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