37. Zwischenruf: Erich Marks im Gespräch mit Lothar Janssen
Betr.: DPT-Zwischenruf vom 16. September 2020
Wir fahren mit dem Ruderboot in eine Nebelwand hinein: Ist es dahinter schön oder weiterhin neblig (Peter von Matt) – eine prosaisch-psychologische Betrachtungs- und Auslegeweise:
Schulen in Corona Zeiten, Kultur vs. Strategie: Was hat sich bewährt, was hält bzw. ist dann (weiterhin) nachhaltig?
Zu meiner Person:
61 Jahre alt, Studium der kath. Theologie in Bonn und Tübingen, dann Studium der Psychologie in Zürich.
Psychotherapeutische Zusatzausbildungen, Psychologischer Psychotherapeut.
Berufliche Arbeitsfelder:
Beratung von Schulsystemen, vom Kindergarten, Grundschule, Hauptschule bis zum Gymnasium, wo ich auch noch unterrichte als Religions/Psychologielehrer und Schülerberater bin. (Hauptsächliche Altersgruppe 12 bis 23 Jahre.)
Mitarbeit psychotherapeutisch in einer psychiatrischen Praxis und vor 10 Jahren Mitgründer vom SIFG, Schweizer Institut für Gewaltfragen: Tagungen zur Gewaltprävention bis hin zu schwerer Gewalt. Was ist state of the art? Zahlreiche Zusatzausbildungen in diesem Bereich.
Da ich viele Anfragen aus dem schulischen Bereich bekomme, kommen diese (An)fragen zugespitzt in Corona Zeiten im Sinne von: «Was können wir da und da machen, oder: «Dem oder der geht es nicht gut», egal ob Kind oder Erwachsener, ganz unterschiedlich bei mir an im Hören und Mitdenken: Die «einen» sehr unaufgeregt trotz der Ausnahmesituation, offen auch ihre Ängste kommunizierend bis zum Teil in den privaten Bereich hinein, die «anderen» auch sehr bemüht, aber eben zu bemüht und immer wieder Sicherheiten fordernd im Sinne von : «Wenn ich das und das richtig mache, dann ist das ja ok.»
Es bewahrheitet sich sehr die Aussage «in ausserordentlichen Situationen reagiert der Mensch ausserordentlich». Und: Aussagen zu einer sinnvollen Prävention halten ihr Standing auch in Ausnahmesituationen aus meiner Sicht, wenn sie vorher eingeübt, gelebt und umgesetzt wurden und nicht als Papiertiger oder als Mantra ohne lebendigen Inhalt verendet sind. Das wirkt zwar nach aussen sehr korrekt, ist aber ein absoluter Killer, denn:
Culture eats Strategy for Breakfast: Ständig wird umstrukturiert und evaluiert. Kultur und Prävention sterben quasi hier eine Art Heldentod, weil nach aussen alles scheinbar stimmt, aber die Stimmung kippt wie bei dem Seerosenparadoxon, wo scheinbar plötzlich der Weiher stirbt, weil alles formularmässig zugewachsen ist und keine Luft mehr zum Atmen da ist.
So verschwinden ganze Biotope und Schulen sollten doch auch Biotope sein, damit Kinder und Jugendliche sich entfalten und wachsen können. Solche Schulen sind schlecht vorbereitet auf diese Zeiten, wenn dann noch Umstrukturierungen im Sinne von ,»jetzt erst merken wir, dass ...» stattfinden werden alle verunsichert, da keine Glaubhaftigkeit vorhanden ist, weil man(n) am Kurs zu stur festgehalten hat. Schulen, die vorher Krisen als Krisen akzeptiert und offen kommuniziert haben und sie nicht nur rein verwaltungsmässig abarbeiten, haben die besten Chancen, eine tragfähige Gemeinschaft zu bleiben und sich auch in ausserordentlichen Situationen weiterzuentwickeln. Ich habe das in eindrücklicher Art und Weise in einem Schulsystem erlebt, wo sich ein Jugendlicher in dieser Corona Zeit suizidiert hat: Alle, von oben bis unten, haben alles mitgetragen, miteinander geredet und sich daran abgearbeitet, soweit es ging , eine grosse Wunde ist geblieben und ist auch allen bewusst.
Beispielhaft führe ich fünf Leitsätze an, die mir immer sehr geholfen haben:
- Gewaltprävention ist integrativer Bestandteil permanenter Schulentwicklung.
- Programme ersetzen die persönliche Haltung nicht!
- Lob der Struktur: Feste Laufwege und klare Ansprechpartner/innen.
- Die Schülerinnen und Schüler beteiligen sich aktiv an der Gestaltung und Aufrechterhaltung von Regeln und Anlässen, die dem ebenso lustvollen wie lernfreudigen Zusammenleben dienen.
- Handelnde Akteure sollten sich in Friedenszeiten bereits gut kennen lernen.
Was hat das mit der Corona Zeit zu tun?
Als die Schulen Mitte März geschlossen wurden, stellten sie sich in kürzester Zeit auf den Fernunterricht ein. Lehrpersonen und Schulleitungen mussten sich umgehend und gezwungenermassen Kenntnisse über geeignete Medien und Formate für den digitalen Unterricht aneignen und mit kreativen Mitteln eine Klassen-und Schulgemeinschaft sichtbar und spürbar machen.
Was hat die Schülerinnen und Schülerin in der Krisensituation gestärkt hat, wie gehen sie Unsicherheiten um?
Konkret: In einem Schulsystem im Zürcher Oberland in Hombrechtikon, wo ich seit über 20 Jahren mitarbeite, haben wir Peacemaker/Innen (Streitschlichter/Innen nach den obengenannten Aussagen) eingeführt vor ca. 15 Jahren, die bis heute erfolgreich sind und weiterhin Bestand haben und auch erfolgreich evaluiert worden sind als Teil einer lebendigen Schulkultur im peer to peer.
Warum? Weil wir uns eine Haltung vor Jahren (hart) erarbeitet haben vor Corona mit den obengenannten Aussagen und sie versuchen vorzuleben mit dem gesamten Lehrkörper bis hin zu den Hausmeistern. Das hält auch im Fernunterricht.
Dann ist es auch wie selbstverständlich, dass unsere Peacemaker/Innen sich bei uns melden, wenn es jemand im Lock down ganz schlecht geht und sie nicht das erst bei der Schulöffnung erst mitteilen.
So können Krisen auch in Corona Zeiten erfolgreich angegangen werden. Das bestärkt und stärkt die Gemeinschaft in diesen bewegten Zeiten, in den eingangs erwähnten Worten von Peter von Matt, ehemaliger Germanistikprofessor an der Universität Zürich: «Wir fahren mit dem Ruderboot auf eine Nebelwand zu und wissen nicht, ob es dahinter schön oder weiter neblig ist.»
Im Sinne einer gelebten Schulkultur sind solche Spannungen wesentlich besser auszuhalten als sich durch nur Strategien ständig Scheinsicherheiten zu erschaffen. Oder Leute werden Opfer von Cyberbullying, wir erfahren es sofort und nicht, nachdem sich die Geschichte (brutalst) verfestigt hat.
Gute Nachrichten und ein vorläufiges Fazit: Wir können unseren gelebten Präventionsgrundsätzen mega, wie Jugendliche sagen würden, vertrauen.
Das beruhigt ungemein in diesen unruhigen Zeiten. Und die Schulgemeinschaft schafft auch diese ausserordentliche Krise, weil alle ernstgenommen werden. Solche Schulen werden psychisch gut überleben und nicht nur äusserlich und verwaltet funktionieren. Das Prinzip der Selbstwirksamkeit durch am gleichen Strang in die richtige Richtung ziehen (rudern) schon vor Corona bewirkt auch, dass Schülerinnen und Schüler besser lernen können.
Alle kennen sich in friedlichen Zeiten, es «tauchen» nicht ständig neue Player auf, die Bürokratie drängt sich nicht in den Vordergrund mit dem Vorwand der Korrektheit. So kann Schule als Ort der sozialen Kontakte und des Lernens weiter gelingen.
«Entweder wir hängen uns alle zusammen oder wir hängen allein.» (nach Adolf Muschg)
Lothar Janssen im September 2020
Lothar.janssen@sifg.ch
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Egbers/Himmelrath (Hrsg.): Das Schuljahr nach Corona. Hep-Verlag 2020
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