28. Zwischenruf: Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Oskar Gstrein
Heute ist Freitag, der 19. Juni 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon den Juristen und Philosophen Professor Dr. Oskar Josef Gstrein. Seit seiner vielbeachteten Dissertation mit dem Titel „Das Recht auf Vergessenwerden als Menschenrecht: hat Menschenwürde im Informationszeitalter Zukunft?“ hat er zahlreich zu diesem Themenkomplex publiziert. Aktuell arbeitet er als Assistenzprofessor an der Universität Groningen in den Niederlanden.
Herr Gstrein, ich grüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Gewalt- und Präventionsarbeit Ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.
Mir ist es in der gegenwärtigen Situation besonders wichtig darauf hinzuweisen, dass die Verwendung großer Datenmengen (‚Big Data‘) für sich allein keine Lösung darstellt. Daten verbessern das Krisenverständnis, aber Technologie ist kein Allheilmittel. Wahrscheinlich haben wir gerade aufgrund des schnelleren und verbesserten Verständnisses von komplexen Zusammenhängen die Chance, besser als frühere Generationen mit einer Pandemie umzugehen. Aber die gesteigerte Komplexität in der Informationserfassung und -verarbeitung kann auch dazu führen, dass man falsche Prioritäten setzt und sich auf die falschen Dinge zum falschen Zeitpunkt konzentriert. Daten muss man im richtigen Kontext verstehen, und das bedarf Expertise und Erfahrung.
Ihr besonderer Fokus sind die Menschen- und Bürgerrechte?
Ich sehe Menschen- und Bürgerrechte als historische Erfahrungswerte, die aufgrund ihrer Wichtigkeit zu Grundpfeilern unserer Gesellschaft geworden sind. In Zeiten der Stabilität und vermeintlichen materiellen Wohlstands erscheinen sie manchen als Ballast, der unnötige Anforderungen stellt. Aber wenn sich die Dinge – wie in den letzten Wochen und Monaten – schnell und unvorhersehbar verändern, erlauben sie es uns Ereignisse in Kontext zu setzen. Die Kunst dabei ist diese abstrakten Werte konkret auf die jeweilige Situation anzupassen und sie zur Grundlage von neuen Strategien zur nachhaltigen Krisenbewältigung zu machen. Gerade wenn es um die Verwendung neuer Technologien geht ist das besonders spannend, aber es gibt auch einiges an historischen Erfahrungen das man dabei berücksichtigen kann. So erinnert die gegenwärtige Situation mit den Diskussionen um die Schaffung neuer Überwachungssysteme (Kontaktverfolgung etc.) auch an die Lage nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York im September 2001. Da wurde auch manches überstürzt eingeführt, was uns alle weiter beschäftigt hat als die eigentliche Bedrohung lange vorbei war.
Sie betonen deshalb das Recht auf Datenschutz, Privatsphäre auch und gerade mit Blick auf technologische Entwicklungen?
Natürlich stimmt es, dass niemand ein absolutes Recht auf Privatsphäre oder Datenschutz hat. Allerdings finde ich auch, dass mit dieser Aussage wenig an neuer Erkenntnis gewonnen wird. Generell gilt es pseudo-ökonomische Abwägungen im Sinne von ‚ein bisschen weniger Privatsphäre hat etwas mehr Sicherheit zur Folge; da muss man unter den Umständen Solidarität einfordern‘ zu vermeiden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich Gesellschaften in vielen westlichen Ländern dadurch ausgezeichnet beides zu ermöglichen. Wir sind verhältnismäßig frei in einer verhältnismäßig sicheren Gesellschaft. Das ist nicht immer perfekt und meist gibt es Verbesserungspotenzial. Allerdings ist es auch ein großes Gut, dass keineswegs selbstverständlich ist und für das man sich permanent einsetzen muss. Das gilt besonders wenn es um die Entwicklung und Anwendung neuartiger Technologien geht, da hier wiederum eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem eigentlichen Zweck und der verhältnismäßigen Anwendung erforderlich ist. Ansonsten ist eine sichere Anwendung in einer freien Gesellschaft nicht gewährleistet.
Was bedeutet das für moderne Datenverantwortlichkeiten?
In unserem Artikel argumentieren wir, dass der traditionelle Ansatz im Bereich des Datenschutzes nicht ausreicht um mit den gegenwärtigen Herausforderungen auf ethisch wünschenswerte Weise umzugehen. Der Grund dafür ist einerseits, dass Datenschutz sich traditionell sehr stark am Individuum orientiert. Andererseits geht es vor allem um das Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Dem stehen die Herausforderungen der letzten Jahre und Jahrzehnte entgegen, in denen der Einfluss von Daten auf die Autonomie von ganzen Gruppen in der Gesellschaft immer wichtiger wird, der grenzüberschreitende Bezug dominiert, und indem sowohl private als auch internationale Akteure entscheidende Rollen spielen. Anstatt sich nur darauf zu konzentrieren geltendes Recht formell umzusetzen, würden wir uns eine Form von ‚verantwortlichem Umgang mit Daten‘ bzw. datengetriebenen Technologien wünschen. Beispiele dafür lassen sich unseres Erachtens im Bereich der humanitären Hilfe finden, wo in den vergangenen Jahren viel zu diesen Themen geforscht und entwickelt wurde.
Was ist Ihre zusammenfassende Forderung für die einschlägigen Diskurse der näheren Zukunft?
Wie bereits eingangs erwähnt bin ich grundsätzlich überzeugt, dass große Mengen an schnell verfügbarer Information sehr hilfreich dabei sein können komplexe Herausforderungen zu bewältigen. Dieser Kategorie sind sicher auch Pandemien zuzurechnen, und leider wird die gegenwärtige Situation uns noch einige Zeit beschäftigen, noch mehr Leid erzeugen und weiterhin schmerzhafte Anpassungen fordern. Es ist verständlich, dass da der Druck auf Entscheidungsträger steigt ‚endlich etwas zu tun, damit etwas passiert‘. Allerdings muss man sich vor Augen halten wie effektiv und nachhaltig solche Ansätze sind. Es gibt keine einfachen Lösungen für Herausforderungen die niemand umfassend versteht. Technologie kann einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Situation leisten, aber sie wird nicht alle Lösungen bieten, die benötigt werden.
Herr Gstrein, herzlichen Dank für Ihren Zwischenruf und bleiben Sie gesund.
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