24. Zwischenruf: Erich Marks im Gespräch mit Dr. Monika Schröttle
Gewalt gegen Frauen – und kein Ende?
Über die Notwendigkeit intensivierter Prävention geschlechtsbezogener Gewalt
Dr. Monika Schröttle, Forschungs- und Beobachtungsstelle Geschlecht, Gewalt, Menschenrechte (FOBES) am Institut für empirische Soziologie (IfeS), Nürnberg
Die Corona- Krise bot vielfach Anlass zu Warnungen und Befürchtungen, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt könne vor dem Hintergrund der häuslichen Isolation und sozialer wie individueller Spannungen zunehmen. In Wirklichkeit wurde jedoch vor dem Hintergrund der Krise nur ein bereits davor gravierendes gesellschaftliches Problem noch deutlicher: das nach wie vor hohe Ausmaß an (schwerer) häuslicher Gewalt gegen Frauen und die Tatsache, dass von politischer Seite zu wenig für den Schutz und die Prävention von häuslicher und sexualisierter Gewalt und den Abbau von Gewalt im Geschlechterverhältnis getan wird.
Alle bisherigen nationalen und internationalen Dunkelfeldstudien zu Gewalt gegen Frauen verweisen auf ein unvermindert hohes Ausmaß von körperlicher, sexualisierter und psychischer Gewalt gegen Frauen, zumeist durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner: etwa jede Vierte bis Fünfte war oder ist von häuslicher körperlicher und/oder sexueller Gewalt in ihrem Erwachsenenleben mindestens einmal betroffen (s. FRA und Expertise Schröttle). In Deutschland wird nach den aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistiken etwa jeden dritten Tag eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet; Tötungsversuche in diesem Kontext finden täglich statt (s. BKA 2019). Gewalt gegen Frauen zieht sich, wie Dunkelfeldstudien zeigen, durch alle Bildungs- und Sozialschichten und sie ist nicht auf bestimmte Kulturen oder Subkulturen begrenzt. Trotz der über 40 Jahre andauernden Aktivitäten der Frauen(haus)bewegung und Frauenpolitik auf nationaler und internationaler Ebene, die sehr viel Positives im Hinblick auf rechtliche Veränderungen, Forschung und Ausbau des Unterstützungssystems vorangebracht haben, gibt es bislang keine Hinweise auf einen relevanten Abbau von Gewalt gegen Frauen. Anders als bei Gewalt im öffentlichen Raum und Gewalt im elterlichen Erziehungsverhalten scheint Gewalt durch Männer gegen Frauen zu stagnieren und bislang nicht zurückzugehen.
Woran liegt das? Wurden nicht die richtigen Strategien und „Schalthebel“ für die Verringerung oder Beendigung von Gewalt im Geschlechterverhältnis gefunden? Waren bisherige Maßnahmen unzureichend oder wurde Gewaltprävention zu wenig breit und konsequent umgesetzt?
Zurecht kritisieren und skandalisieren insbesondere auch junge Frauen den weiterhin von Ungleichheiten und Gewalt geprägten Zustand der Geschlechterverhältnisse, etwa im Rahmen der # MeeToo-Kampagne oder der sich gegen Femi(ni)zide (geschlechtsbasierte Tötungen) richtenden Aktion #keinemehr. Ungeduld scheint vor dem Hintergrund unzureichender Fortschritte im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen adäquat zu sein.
Was ist also zu tun? Wie können hier kurz- und langfristig Täter gestoppt und Gewalt gegen Frauen beendet werden? Folgende sieben Punkte könnten, konsequent und flächendeckend eingeleitet, zu sichtbaren Veränderungen beitragen:
- Dürfen Staat und Gesellschaft nicht weiter hinnehmen, dass ein relevant großer Teil der von Gewalt betroffenen Frauen nicht zeitnah Schutz und Unterstützung, zum Beispiel in Frauenhäusern und Schutzwohnungen erhält. Immerhin handelt es sich um eine staatliche Aufgabe und grundlegende Verpflichtung, die körperliche Unversehrtheit und Sicherheit ihrer Bürger*innen konsequent zu schützen. Untersuchungen zeigen aber, dass etwa die Hälfte der von Gewalt betroffenen und in einem Frauenhaus Schutz suchenden Frauen nicht zeitnah dort aufgenommen werden können, weil zu wenig Platz und unzureichende personelle Kapazitäten den Alltag der Einrichtungen seit Jahrzehnten prägen. Dieser Zustand muss umgehend behoben werden – wie schnell dies gehen könnte, wenn der politische Wille vorhanden ist, zeigen auch die derzeit umfangreich fließenden staatlichen Gelder in anderen Problemfeldern im Zusammenhang mit der Corona Krise.
- In akut gefährlichen und bedrohlichen Gewaltsituationen muss von staatlicher Seite vor Ort konsequent interveniert und auf Schutz der Betroffenen hingewirkt werden, und zwar mit wirkungsvollen Methoden zur Verhütung von schwerer Gewalt und Tötungsdelikten an Frauen. Praxiserfahrungen und Studien zeigen etwa, dass von der Polizei unterstützte Notrufhandys und Apps mit Ortungsmöglichkeiten für Betroffene in Gefährdungs-, Stalking- und Trennungssituationen schwere Gewalt und fortgesetzte Bedrohungssituationen verhindern können. Sofortige, in Risikofällen einberufene multiprofessionelle Fallkonferenzen, wie sie etwa im Rheinlandpfälzischem RIGG-Projekt entwickelt wurden, tragen ebenfalls wirkungsvoll zum Abbau von Tötungsdelikten und schwerer Gewalt gegen Frauen bei.
- Hinzu kommen muss eine staatliche Praxis, die alle Täter häuslicher Gewalt konsequent zur Verantwortung zieht – durch Strafverfolgung und durch Maßnahmen, die auf eine Verhaltensänderung abzielen, wie sie auch im Rahmen der Täterarbeit entwickelt wurden. Dies ist bislang in Deutschland nur äußerst marginal der Fall, da die Täterarbeit völlig unzureichend ausgebaut und finanziert ist, und dadurch die Verursachenden der Gewalt regelmäßig nicht gestoppt werden – und oftmals Gewalt in der nächsten Beziehung fortführen. Bei häuslicher Gewalt muss Täterarbeit als Auflage obligatorischer Bestandteil der staatlichen Intervention sein (auch unabhängig davon, ob die Tat zugegeben oder geleugnet wird). Hinzukommen muss bei mutmaßlich schwer gewalttätigen Partnern die obligatorische Verpflichtung zu einem Väter- oder Elterntraining, bevor auch nur daran zu denken ist, gewalttätigen Partnern Umgangs- oder Sorgerecht zu gewähren und dadurch alle Betroffenen weiter zu gefährden. Wichtig ist dies gerade vor dem Hintergrund dass Kinder durch häusliche Gewalt zwischen den Eltern nachhaltig geschädigt und ohne Sanktionen der Taten zudem in ihrem Rechtsempfinden beeinträchtigt werden. Bei Zuwiderhandlungen gegen Gewaltschutzanordnungen wie Wegweisung und Näherungsverbot müssten darüber hinaus flächendeckend empfindliche Sanktionen erfolgen (von Führerscheinentzug – wie in Rheinland Pfalz bereits erfolgreich eingesetzt, bis hin zu Strafverfolgung, Haftstrafen und Sicherheitsverwahrung). Solche Maßnahmen der Täter- und Tatprävention können helfen, das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen relevant zu vermindern.
- Ein weiterer wichtiger Punkt für gelingende Prävention besteht darin, Kinder in und nach Situationen häuslicher Gewalt intensiv zu unterstützen und zu begleiten und ihnen obligatorisch kurz- und langfristige psychosoziale Unterstützung zu geben. Nur so kann die intergenerationelle Vermittlung von Gewalt im Geschlechterverhältnis unterbrochen werden, denn Mädchen und Jungen, die Gewalt zwischen den Eltern erleben, sind nachweislich deutlich gefährdeter, im späteren Erwachsenenleben selbst Ausübende und/oder Betroffene von häuslicher Gewalt zu werden und diese in die nächste Generation weiterzutragen.
- Prävention häuslicher Gewalt bezog sich bislang noch kaum auf die sozialen Umfelder der Betroffenen, obwohl Dunkelfeldstudien zeigen, wie hoch relevant diese für den weiteren Verlauf der Unterstützungssuche und die Möglichkeit der Loslösung aus gewaltbelasteten Beziehungen sind. Präventionsmaßnahmen sollten deshalb verstärkt fokussieren auf Personen, die den Betroffenen und/oder den Tätern in Privatleben und Beruf nahestehen, um diesen Informationen über hilfreiche Umgangsweisen und Interventionen zu geben. Auch Nachbarschaftsprojekte wie etwa das STOPP-Projekt in Hamburg können einen wichtigen Beitrag zur Prävention häuslicher Gewalt leisten.
- Des weiteren müssen flächendeckend generalpräventive Projekte für Jungen, männliche Jugendliche und Männer implementiert und finanziert werden, um Geschlechtsidentitäten zu stärken, die nicht auf Dominanz, Abwertung Dritter und Gewalt beruhen. Zugleich sind flächendeckend Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungstrainings für Mädchen und Frauen sowie für besonders vulnerable Gruppen (LSBTI, Menschen mit Behinderungen und von heterosexistischen Normen abweichende Menschen) erforderlich, um den Täter-Opfer-Polarisierungen bei geschlechtsbezogener Gewalt entgegenzuwirken und alternative Verhaltensweisen zu stärken. Auch hierfür gibt es bereits erfolgreiche Ansätze, die jedoch in die breite Bevölkerung getragen werden müssen.
- Letzter weiterführender Punkt wäre die Förderung geschlechter- und gewaltkritischer Bildungsarbeit durch alle Institutionen hindurch, von Kita und Schule über Berufsausbildung und Studium bis hin zu Bildungsarbeit über Medien und in beruflichen/sozialen Kontexten. Dies umfasst auch die Unterstützung von Kampagnen und verschiedenen Formen kultureller Arbeit, die ein Bewusstsein für ungleiche Macht- und Geschlechterverhältnisse schaffen und deren Infragestellung und Überwindung befördern.
Alle diese Maßnahmen sollten, um Wirkungen und Wirksamkeit zu erhöhen, partizipativ und gemeinsam mit von Gewalt betroffenen Personen entwickelt, zumindest aber von diesen kritisch geprüft werden. Nur durch deren Beteiligung kann sinnvoll ermittelt werden, was als hilfreich und wirkungsvoll und was als kontraproduktiv oder wirkungsarm einzuordnen ist.
Wirkungsvolle Präventionsmaßnahmen umfassen die Bearbeitung und Veränderung gewaltbeeinflussender Faktoren. In Bezug auf Gewalt gegen Frauen konnten bereits vor 20 Jahren in einer Dissertation zu „Politik und Gewalt im Geschlechterverhältnis“ (Schröttle 1999) fünf gewaltbeeinflussende Faktoren staatlichen und gesellschaftlichen Handelns ermittelt werden:
- Normen und Normenvermittlung durch Staat und Gesellschaft
- Gesellschaftliche Kontrolle und staatliche Interventionsbereitschaft
- Geschlechterpolitik, geschlechtsspezifische Rollenerwartungen und Machtverteilungen
- Das Zusammenwirken von struktureller und individueller Gewalt.
Es wird Zeit, dass Deutschland und Europa in den nächsten Jahren im Abbau von Gewalt im Geschlechterverhältnis relevant und messbar vorankommen. Dazu bedarf es einer versierten Strategie, die die vielfältigen Wirkungen staatlichen und gesellschaftlichen Handelns, die Betroffenenperspektive und den Zusammenhang unterschiedlicher Gewaltphänomene einbezieht. Zudem gibt die konsequente Umsetzung der auch von Deutschland ratifizierten Istanbul Konvention (dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) eine umfassende Strategie vor. Zentral wird deren Implementierung durch handlungsfähige Koordinierungsgremien unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft sein und die Prüfung der Umsetzung auf Basis eines wissenschaftsbasierten Monitorings, welches durch quantitative und qualitative Forschung Fortschritte, Kontinuitäten und Rückschritte messen und abbilden kann. Es bleibt abzuwarten, ob sich politische Entscheidungsträger*innen diesem Verfahren zur objektiven Prüfung der Folgen und Erfolge ihres Handelns stellen werden.
Dr. Monika Schröttle ist Leiterin der Forschungs- und Beobachtungsstelle Geschlecht, Gewalt, Menschenrechte (FOBES) am Institut für empirische Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie forscht und lehrt seit über 25 Jahren zu Gewalt im Geschlechterverhältnis und zu struktureller Ungleichheit, zum Beispiel im Kontext von Behinderung und Migration und besetzte Professuren in Braunschweig, Gießen und Dortmund. Sie koordiniert das European Observatory on Femicide sowie, zusammen mit Dr. Renate Klein, das European Network on Gender and Violence. Aktuell ist sie zudem mit der Gründung einer digitalen Internationalen Zukunftsuniversität beschäftigt.