07. Zwischenruf: Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Ulrich Wagner
Heute ist Montag, der 30. März 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Professor Dr. Ulrich Wagner. Herr Wagner war bis 2017 Inhaber der Professur für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität Marburg. Er beschäftigt sich mit Intergruppenkonflikten und Gewaltprävention sowie der Evaluation von Interventionsmaßnahmen und berät verschiedene Präventionsprojekte.
Herr Wagner, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.
Die gegenwärtige Krise berührt uns alle in unserem Alltag eindrucksvoll. Als Bürger und Wissenschaftler, der sich mit Prävention beschäftigt, begleitet man den politischen und medialen Umgang mit der Krise natürlich auch neugierig und kritisch.
Der politische Umgang mit Corona ist in weiten Bereichen Präventionsarbeit, indem man versucht, der weiten und unkontrollierten Ausbreitung der Krankheit vorzubeugen. Einige Dinge fallen dabei auf, aus denen wir auch in anderen Bereichen der Prävention lernen können.
Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?
Erstens, Prävention braucht präzise und nachvollziehbare Verhaltensanweisungen. Das ist in der Kommunikation in Zusammenhang mit Corona allerdings noch verbesserungsfähig. Politik und Medien sprechen austauschbar von Ausgangssperre, Ausgangsverbot, Quarantäne, zu Hause bleiben, usw. Auch kursierte immer wieder der unsinnige Aufruf, soziale Kontakte zu meiden. Die Botschaft ist doch eigentlich einfach: „1.5 Meter physischen Abstand zu Menschen, die nicht zum eigenen Haushalt gehören, und Orte, an denen das nicht möglich ist, sind zu meiden“. Eine solche Abstandsregelung ist nachvollziehbar, umsetzbar und ordnungsrechtlich durchzusetzen.
Zweitens, Prävention braucht eine wissenschaftliche Basis. Prävention hat besondere Aussichten auf Erfolg, wenn sie mit empirisch gut abgesicherten Theorien begründet werden kann, die z.B. sagen, wenn ich heute physischen Abstand wahre, kann ich wissenschaftlich fundiert annehmen, dass das die Ausbreitung des Virus verlangsamen wird. Im Umgang mit der Corona-Krise scheint mir dieses Prinzip der Orientierung an der Wissenschaft, speziell der Epidemiologie, im Grundsatz vorbildlich. Allerdings sehe ich in diesem Zusammenhang auch z.T. fatale Schwächen.
Eine der Schwächen ist - und das ist mein dritter Punkt - dass die Voraussetzungen für eine notwendige Prozessevaluation nicht geschaffen wurden. Präventiv zu intervenieren mit dem Ziel, ein Übel wie die Corona-Pandemie einzudämmen, setzt voraus, dass möglichst zeitnah kontrollierbar ist, ob die eingesetzte Maßnahme, also die Abstandsregelung, wirklich erfolgreich ist und die Zahl der Neuinfektionen tatsächlich reduziert. Wie wir jetzt erfahren müssen, sind solche Formen der Prozess- und Effektevaluation gegenwärtig nur sehr eingeschränkt möglich, weil es an hinreichend zuverlässigen Indikatoren fehlt: Die Zahl der Neuerkrankungen wird nicht systematisch erfasst; viele Menschen haben das Virus vermutlich schon überstanden, ohne davon zu wissen, und selbst aktuell wird die Empfehlung ausgesprochen, bei leichten Krankheitssymptomen in die häusliche Quarantäne zu gehen, ohne dass das Vorliegen von Corona medizinisch zuverlässig festgestellt wird. Das kann man unter dem gegenwärtigen Situationsdruck pragmatisch für nachvollziehbar halten, für eine effektive Steuerung von Maßnahmen ist ein solcher Blindflug sehr problematisch.
Einen vierten Punkt möchte ich unter Präventions- und Evaluationsaspekten noch ansprechen: Das ist die Beachtung unintendierter Nebeneffekte. Jede Intervention wie die Abstandsregelung muss nicht nur darauf hin überprüft werden, ob sie wirkt, also die Infektionsraten senkt, sondern auch daraufhin, ob sie Effekte nach sich zieht, die unerwünscht oder gar gefährlich sind. Die gegenwärtigen Maßnahmen zur Eindämmung von Neuinfektionen sind erfreulicherweise in starkem Maße von epidemiologischen Erkenntnissen geprägt, das Problem ist allerdings die Einengung der Perspektive. Neben epidemiologischen Theorien kommen bestenfalls noch wirtschaftswissenschaftliche Überlegungen für die Ausgestaltung von Maßnahmen gegen Corona ins Spiel. Psychologische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse bleiben weitgehend unberücksichtigt. Dabei wissen die Psychologie und die Sozialwissenschaften, dass dauerhafte physische Isolierung gefährliche individuelle und soziale Nebeneffekte nach sich zieht, wie Vereinsamung, Depressionen, Verzweiflung, Widerstand, Panik und Gewalt. Und solche Effekte beeinträchtigen unterschiedliche Teile der Bevölkerung in unterschiedlichem Maße, wie z.B. Kinder, die in ihrem Bewegungsdrang eingeschränkt werden, und alte Menschen, z.B. in Altenheimen. Auch das sind Gesichtspunkte, die bei der Frage der Etablierung und der angemessenen Dauer der Beschränkung von physischen Kontakten mit einbezogen werden müssen.
Abschließend wäre ich Ihnen noch dankbar für eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Zwischenruf.
Das Abwägen von positiven und negativen Konsequenzen einer präventiven Intervention wie der Abstandsregelung ist nicht mit mathematischen Durchschnittsmodellen möglich, das ist eine Wertentscheidung. Die Verantwortung für die Abwägung liegt deshalb auch nicht in der Wissenschaft, sondern in der Politik, die die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Epidemiologie und auch aus der Psychologie sorgfältig zur Kenntnis nehmen und auf dieser Basis dann entscheiden muss.
Insgesamt komme ich zu dem Schluss, dass der gegenwärtige Umgang mit der Corona-Krise durchaus viele positive Aspekte einer evidenzbasierten Politik aufweist. Gleichzeitig muss man aber auch feststellen, dass es durchaus noch Schwächen in der Kommunikation, der Datenbasis und der Breite der Perspektive bei der Abschätzung der Effizienz von Maßnahmen gibt, die dringend und umgehend ausgeglichen werden müssen.
Herr Professor Wagner, haben Sie herzlichen Dank für Ihren Präventions-Zwischenruf und bleiben Sie gesund.
Kontakt:
wagner1@uni-marburg.de
Neuerscheinungen
P. Hagenaars, M. Plavsic, N. Sveaass, U. Wagner, & T. Wainwright (2020 April). Human Rights education for psychologists. Routledge: London.
Wagner, U., Tachtsoglou, S., Kotzur, P.F., Friehs, M.T., & Kemmesies, U. (2020 June). Proportion of foreigners negatively predicts the prevalence of xenophobic hate crimes within German districts. Social Psychology Quarterly.
Wagner, U., Friehs, M.T., & Kotzur, P.F. (2020 im Druck). Das Bild der Polizei bei jungen Studierenden. Polizei und Wissenschaft.
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