12. Zwischenruf: Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Judith Ackermann

Prof. Dr. Judith Ackermann
Fachhochschule Potsdam
Erich Marks
DPT – Deutscher Präventionstag

Heute ist Montag, der 6. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an den DPT-Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Dr. Judith Ackermann, Professorin für Digitale Medien in der Sozialen Arbeit an der FH Potsdam. Frau Ackermann leitet aktuell zwei vom Bundesforschungsministerium (BMBF) geförderte Projekte: Unter dem Kürzel DISA geht es einerseits um „Digitale Inklusion im Kontext Sozialer Angststörungen“ und andererseits um das Projekt PKKB „Postdigitale Kunstpraktiken in der Kulturellen Bildung – Ästhetische Begegnungen zwischen Aneignung, Produktion und Vermittlung“.

Frau Ackermann, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie zunächst fragen, auch vor dem Hintergrund Ihrer aktuellen Forschungen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

In Momenten, in denen das Thema Krankheit so stark im Fokus steht, wie jetzt gerade der Fall, gilt es unser Augenmerk stärker auf Gesundheit und Gesunderhaltung zu richten. Wir müssen unsere Perspektive verschieben. Durch die Corona-Pandemie stehen wir als Gesamtgesellschaft vor sehr großen Herausforderungen und Veränderungen in Bezug auf unsere Lebensführung. Dinge, die wir noch vor einigen Wochen, als selbstverständlich erachtet haben, sehen wir auf einmal in Frage gestellt. Sicherheiten, mit denen wir sozialisiert sind, brechen weg. Wir beobachten wie sich das Bildungssystem, die Wirtschaft, die Mobilität und unser Zusammenleben mit jedem Tag weiter verändern. Und das als Reaktion auf einen Gegner, den wir nicht recht fassen können. Das Virus ist im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar. Es bleibt abstrakt. Wir wissen nicht, wer es in sich trägt und wo es uns begegnen könnte. Das setzt uns unter Stress und erzeugt Ängste. Die Situation scheint sich jeglicher Kontrolle durch den bzw. die Einzelne zu entziehen. Dies führt zu einer hohen Grundspannung, welche mitunter die Schwelle zu Wut oder unberechenbarem Verhalten senken kann. Der erlebte Kontrollverlust kann Handlungen hervorrufen, die durch Übertritte von Normen versuchen eine Selbstwerterhöhung zu erzielen. Situationen mit so hoher psychischer Belastung wie die vorliegende, können Tendenzen des „Ausbrechens“ erzeugen, diese können etwa selbstverletzendes oder gar tötendes Verhalten beinhalten oder auch Rebellion gegen das System und die Flucht in Verschwörungstheorien. In diesem Sinne würde ich die psychische Stabilisierung aktuell als einen besonders wichtigen Präventionsaspekt ansehen.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Die Coronakrise stellt eine große Herausforderung nicht nur für unsere körperliche, sondern auch für unsere psychische Gesundheit dar. In ihrem Ausmaß ist sie für den menschlichen Verstand kaum greifbar. Das kann dazu führen, dass wir wie gelähmt vor der sich immer weiter fortschreibenden Nachrichtenlage sitzen und ein Ohnmachtsgefühl erleben. Das führt natürlich in der aktuellen Situation auf mehreren Ebenen zu Problemen: einerseits wird es uns in der physischen Isolation teilweise verunmöglicht, unser Empfinden mit dem Anderer abzugleichen, auf der anderen Seite wird uns die Angst im außen immer wieder aufs Neue gespiegelt. Dies wird durch ein hohes Maß an Unsicherheiten verstärkt. So befinden sich beispielsweise die Handlungshinweise von Staat und WHO in einem beständigen Wandel. Was uns heute noch als okay vorkommt, kann morgen schon als unerwünschtes Verhalten gelten. So wurden beispielsweise die Regeln, welche Versammlung im öffentlichen Raum und körperliche Nähe betreffen, nach und nach immer drastischer und die anfangs noch geduldete Begrüßung via Ellbogen beispielsweise durch den Mindestabstand von 2 Metern ersetzt.

Die Spezifität unserer heutigen digitalen und vernetzten Medien kann den mit solchen Verunsicherungen verbundenen Stress zusätzlich befördern. In Echtzeit können Informationen geteilt und verbreitet werden. Alle großen und kleinen Nachrichtenportale halten Corona-Ticker auf ihren Webangeboten bereit, die minütlich aktualisiert werden können. Wir können Informationen aus allen Teilen der Welt mit nur einem Klick zu uns nach Hause holen. Das Prinzip der sich permanent aktualisierenden Timeline impliziert ein Gefühl davon, dass mit jeder Aktualisierung eine neue Veränderung eingetreten sein könnte.

Ähnlich verhält es sich mit den Zahlenzusammenstellungen des RKI auf dem sogenannten COVID-Dashboard. Hier können sich die Besucher*innen alle vorhandenen Informationen zu den Fallzahlen in Deutschland nach eigenen Interessen selbst zusammenstellen. Die Auswahlmöglichkeiten sind vielfältig und lassen somit eine längere Verweildauer zu. Dies kann mitunter zu einem gesteigerten Bedürfnis führen, alle Aktualisierungen mitverfolgen zu müssen. Hieraus kann eine lähmende Fixierung entstehen, da das Management der Informationen unser Kontrollbedürfnis anspricht, jedoch nicht zu einem erlösenden Moment der Ordnung führen kann, weil eben Informationen fehlen, noch nicht bekannt sind und dergleichen. Unser Ohnmachtsempfinden wird gestärkt.

Und wie kommt man da wieder raus?

Eine gute Strategie kann sein, das Großphänomen Corona in kleinere für einen selbst zu bewältigende Einheiten zu unterteilen: ein Beispiel hierfür ist es etwa, dass aktuell so viele Menschen Mundschutzmasken nähen und diese mit anderen teilen – nicht nur tatsächlich durch das Verschenken oder Verkaufen der Masken, sondern auch durch das Posten der Aktivitäten in digitalen Medien. Es entsteht eine Welle von Aktivität, die einen Beitrag zur Bewältigung der Situation leistet. Die Personen aktivieren ihre vorhandenen Ressourcen und erfahren diese als hilfreich und relevant für die aktuelle Krise. Dies findet sich nicht nur bei Einzelpersonen, sondern beispielsweise auch in Sektoren der Wirtschaft: Wenn Produktionsunternehmen, die eigentlich aus anderen Sparten stammen plötzlich Beatmungsgeräte und Schutzkleidung produzieren. Auf beiden Ebenen kommt es durch solche Handlungen zu einer Steigerung des Selbstwirksamkeitserlebens. Dies kann dem Ohnmachtsgefühl entgegenwirken und die psychische Stabilität steigern.

Empfehlen Sie noch weitere Strategien?

Auch in der kreativen Verarbeitung unserer eigenen Ängste und Ohnmachtsgefühle in Bezug auf die Corona-Pandemie können wir uns von diesen distanzieren und es schaffen, uns aus der Immersion der Situation zu lösen und sie neutraler zu betrachten. Das sehen wir beispielsweise aktuell häufig in der Vielzahl der TikTok-Videos die nicht nur Junge Menschen zur Zeit erstellen. An diesen lässt sich die zunehmende Verbreitung des Virus in der Welt und die Veränderung der individuell damit verbundenen Themen und Sorgen ablesen: Mit Tanz, Performance und auch kritischen Gedanken, verarbeiten Menschen ihre Eindrücke der Pandemie. Sie beschreiben das Leben im Quarantäne-Modus, das veränderte Einkaufsverhalten oder die Herausforderungen des Home-Office. Sie geben Tipps um fit zu bleiben und beim Homeschooling den Überblick zu behalten. In den sehr kurzen Clips finden sich häufig Überzeichnungen und Ironisierungen, die die emotionale Distanzierung stärken können. Dies ist ein wichtiges Prinzip, denn es ist ein zentrales Phänomen, dass je verstrickter und involvierter wir in eine Situation sind, es uns umso schwieriger fällt diese von außen zu betrachten. Wenn man Zahlen hört wie 100.000 Erkrankte allein in Deutschland, ist das zweifelsohne eine sehr große und beängstigende Zahl, wenn man diese auf den Prozentanteil an Menschen in Deutschland umrechnet, ist man noch lange nicht bei einem Prozent angelangt. Aus dieser Perspektive lässt sich die Situation wesentlich distanzierter betrachten.

Wichtig ist es, eine Normalisierung der Bedingungen innerhalb der Ohnmacht, und zwar innerlich und äußerlich, zu schaffen. Über die Stabilisierung der Einzelnen kann in weiterer Instanz auch die Gesellschaft re-stabilisiert werden. Und auf diesen Punkt müssen wir uns vorbereiten. Denn es wird die Zeit kommen, in der wir Isolation und Kontaktsperren nach und nach lockern und die Möglichkeit haben, das gesellschaftliche Zusammenleben, wie wir es kennen, wieder aufzunehmen. Bestenfalls sind wir an diesem Punkt psychisch gestärkt und können unsere neu gewonnenen Ressourcen in die Wieder- und Neugestaltung unserer Gesellschaft einbringen. Auf diese Weise hätte die Corona-Pandemie die Chance, durch ihre Wesenszüge als weitreichende Krise, die von uns gemeinschaftlich bewältigt wurde, ein verändertes Zusammenleben hervorzurufen.


Abschließend bitte ich sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen.

Wir müssen unsere Perspektive verändern. Weg von der lähmenden Frontalaufsicht auf das Virus als Ganzes hin zu den kleinen Elementen, an denen wir selbst mit unserem Verstand und unseren Handlungen ansetzen können: wir können unsere Angst kreativ verarbeiten, Schutzmasken herstellen, Menschen in unserer Umgebung beim Einkaufen unterstützen oder Personen durch Gespräche über Telefon und digitale Medien Nähe schenken. Auf diese Weise aktivieren wir unsere eigenen Ressourcen und die der anderen, um unsere Möglichkeiten zu verbessern, im mehrfachen Sinne gesund aus der Situation herauszukommen.

Frau Ackermann, Danke für Ihren Zwischenruf und bleiben Sie gesund.“

Weiterführende Hinweise und Links:

Informationen zum BMBF-Projekt „DISA – Digitale Inklusion im Kontext Sozialer Angststörungen“ gibt es hier: https://www.fh-potsdam.de/forschen/projekte/projekt-detailansicht/project-action/disa-digitale-inklusion-im-kontext-sozialer-angststoerungen/

Informationen zum BMBF-Projekt „PKKB – Postdigitale Kunstpraktiken in der Kulturellen Bildung – Ästhetische Begegnungen zwischen Aneignung, Produktion und Vermittlung finden sich hier https://pkkb.fh-potsdam.de/ und hier https://pkkb.fh-potsdam.de/blog/

„Die Tillerschwestern“ ist ein digital-partizipatives Kindertheater-Projekt in Zeiten der Corona-Pandemie, das Ende März von Signe Zurmühlen und Judith Ackermann ins Leben gerufen wurde. Es transformiert Elemente des Kindertheaters in den digitalen Raum und eröffnet einen Dialog zwischen Kindern und Darstellerinnen, aus dem sich die Geschichte in wöchentlichen Episoden laufend fortentwickelt. Es werden Themen wie Angst, Physical Distancing, Langeweile und Ressourcenaktivierung behandelt und dazu klassische Detektivfälle gelöst. Die Serie basiert auf dem gleichnamigen Kindertheaterstück, das 2014 Premiere am Horizont Theater Köln feierte. Infos hier: http://dietillerschwestern.de/


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