21. Zwischenruf: Erich Marks im Gespräch mit Jörg Jesse

Erich Marks
DPT – Deutscher Präventionstag

Heute ist Dienstag, der 5. Mai 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Jörg Jesse. Herr Jesse war seit 2003 als Ministerialdirigent im Justizministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern für den Strafvollzug und die Bewährungshilfe verantwortlich und ist Mitglied zahlreicher einschlägiger Gremien und Ausschüsse des Europarates in Straßburg.

Herr Jesse, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Präventionsarbeit ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.
Ich möchte heute eine Gruppe in den Fokus rücken, die meines Erachtens hochgradig relevant für die Prävention ist, jedoch kaum Beachtung findet: Die Kinder von Inhaftierten.
Weder gibt es ein verbreitetes Wissen über die Anzahl dieser Kinder, noch ein ausgeprägtes Bewusstsein darüber, mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben und welche Bedeutung diese Aspekte für Prävention im Allgemeinen und für Kriminalprävention im Speziellen haben. Konkreter gesprochen: Es ist beschämend, wie wenig - von bewundernswerten Initiativen freier  Träger abgesehen - die großen Schwierigkeiten dieser Kinder als offensichtliches Feld für Prävention erkannt wurden, obwohl diverse staatliche Institutionen, u.a. Kindergarten, Schule, Sozial-, Familien- und Jugendhilfe, Polizei, Strafjustiz, Justizvollzug und Bewährungshilfe mit ihnen bzw. ihren Eltern im Kontakt stehen.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?
Ich möchte in diesem Beitrag die Wahrnehmung der Fachöffentlichkeit auf eine große Gruppe von Kindern in unserem Land lenken, die unter der Inhaftierung eines Elternteils extrem leiden und die meines Erachtens viel stärker in den Fokus vielfältiger und gut koordinierter Präventionsmaßnahmen rücken sollten. Hier handelt es sich um eine Hochrisikogruppe mit einer deutlich erhöhten Lebenszeitprävalenz für psychiatrische und Suchterkrankungen, oft aus einem Multi-Problem-Milieu, die mit der Bewältigung vieler neuer Problemlagen nicht nur in ihrer Familie konfrontiert sind. Teilweise müssen sie Verantwortung und zusätzliche Aufgaben übernehmen, die nicht ihrem Entwicklungsstand entsprechen, sie sind gezwungen, kleine Helden wider Willen zu werden. Es versteht sich von selbst: Dies ist ein Idealfeld für Prävention, hier ist ein gut koordiniertes Hilfs- und Unterstützungssystem notwendig.

Welche spezifischen Probleme sehen Sie hier?
Wir reden über 100 000 Kinder in Deutschland, d.h. auf sechs Gefangene kommen 10 Kinder
75% von ihnen berichten über negative psychische und physische Folgen der Inhaftierung,
25%    schätzen sich als psychisch labil ein
Geschildert und beobachtet werden erhöhte Emotionalität, Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen, Schlafprobleme, Bauch- und Kopfschmerzen, Aggression und Autoaggression, Suizidalität, Misstrauen, Schuldgefühle, Entwicklungsverzögerungen, Leistungsabfall im Unterricht und Schule schwänzen

Die Inhaftierung eines Elternteils ist häufig mit finanziellen Einschränkungen verbunden
Der Wegfall einer Vertrauensperson geht mit einem Bruch in der Vertrauens- und Selbstvertrauensbildung einher
Zudem wird die Inhaftierung oft zu einem Familiengeheimnis zu Lasten der Kinder verbunden mit Ausgrenzung und Legendenbildung
Und last but not least: Für diese Kinder besteht ein erhöhtes Risiko selbst (25% von ihnen) straffällig und inhaftiert zu werden
Um den Kindern und ihren Familien zu helfen, ist ein multiprofessionelles, fachgebiets- und ressortübergreifendes Vorgehen aller betroffenen staatlichen Stellen im Zusammenwirken mit freien Trägern notwendig.
Die Grundlagen dafür sind vorhanden, sie finden sich in der UN-Kinderrechtskonvention, den Empfehlungen des Europarats und dem sich daraus ergebenden einstimmigen Beschluss der Justizministerkonferenz.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen:
Einhunderttausend Kinder in Deutschland bedürfen dringender Hilfe. Ihre Problemlagen sind umfassend. Sie sind unschuldig in diese Situation gebracht worden und das schwächste Element bei der Bewältigung der Folgen der Straffälligkeit und Inhaftierung eines Elternteils. Wenn wir von der Dimension dieser Probleme wissen und internationale Regelungen zum Umgang mit der Problematik vorhanden sind, die im einstimmigen Beschluss der Justizministerkonferenz anerkannt wurden, ist es Zeit schnellstens zu handeln.

Herr Jesse, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

 


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