Mannheimer Erklärung des 28. Deutschen Präventionstages
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Der Deutsche Präventionstag – DPT
und die ständigen Veranstaltungspartner DFK, ProPK, WEISSER RING
11. Juni 2023
Mannheimer Erklärung
des 28. Deutschen Präventionstages
KRISEN & PRÄVENTION
Der 28. Deutsche Präventionstag befasst sich im Schwerpunkt mit dem allgegenwärtigen Thema der multiplen Krisen und stellt die Frage nach dem Beitrag der Prävention in Bezug auf die Vorbeugung wie auch die Bewältigung von Krisenlagen. Auf der Grundlage der Debatten des Kongresses und einer umfassenden Begleitschrift, die 11 Expertisen aus unterschiedlichen Fachrichtungen enthält [1] , gibt der 28. Deutsche Präventionstag gemeinsam mit den Partnern Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention (DFK), Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes (ProPK) und WEISSER RING e.V. diese „Mannheimer Erklärung“ heraus.
Mit Krise wird eine Phase bezeichnet, in der eine gravierende Veränderung bevorsteht, es jedoch noch offen ist, wie sich die-se vollzieht. Die Katastrophe kann eintreten oder wieder abgewendet werden, die weitere Entwicklung ist noch unbestimmt. Die Einschätzung und Zuschreibung eines Phänomens als krisenhaft entsteht dabei im sozialen Miteinander, ist sozial konstru-iert, subjektiv unterschiedlich erlebbar und wandelbar. Von besonderer Bedeutung ist die aktuelle Wahrnehmung multipler Krisen sowie das Auftreten systemischer Risiken, die das Gesamtsystem gefährden und u.a. durch hohe Komplexität, Kaska-deneffekte und Kipppunkte gekennzeichnet sind.
Prävention im Kontext von Krisen bedeutet nicht ausschließlich den Versuch, das Auftreten von Krisen zu verhindern. Ins Zentrum der Debatte rückt der Begriff der Resilienz, mit dem Bestreben, zu einem guten individuellen und gesellschaftlichen Umgang beizutragen und Widerstandskräfte zu stärken.
Prävention auf der Ebene des individuellen Umgangs mit Krisen
- Krisen können zu Verunsicherung, Orientierungslosigkeit und Gefühlen von Kontrollverlust führen. Die Fähigkeit zur positiven Krisenbewältigung im Sinne einer individuellen Resilienz fußt auf bio-psycho-sozialen Faktoren.
- Insbesondere eine zugewandte und bestärkende Kindheit stellt ein „Fundament“ dar, wodurch Belastungssituationen im Erwachsenenalter besser bewältigt werden können. Kinder, die in schwierigen Verhältnissen aufwachsen, müssen hier durch besonderes Augenmerk auf Beziehungsarbeit im Bildungs- und Freizeitbereich gestärkt werden.
- Menschen können umso besser mit Krisen umgehen, umso eher sie die Krisen in ihren Ursache-Wirkungsbeziehungen verstehen und Handlungsmöglichkeiten für sich sehen. Hierbei spielen auch Faktoren wie die eigene Selbstwirksamkeitser-wartung eine Rolle.
- Für den Umgang mit divergierenden Anschauungen und unklaren Situationen ist Ambiguitätstoleranz, das Aushalten und Akzeptieren von Widersprüchlichkeit, Ambivalenz und Mehrdeutigkeit, wichtig. Ein angemessener Umgang mit ver-schiedenen wissenschaftlichen Aussagen, die Einordnung von Meinungen, Quellen und Erkenntnissen ist als zentrale Kompe-tenz gezielt zu fördern.
- Der psychischen Belastung in Krisenzeiten kann durch Erholung und Stress- bzw. Angstregulation begegnet werden. Psychische Gesundheit sollte in der Krisenprävention als Querschnittsthema betrachtet und in verschiedenen gesellschaftli-chen Bereichen verortet werden. Auch die Stadtgestaltung kann hierzu beitragen.
Prävention auf der Ebene kommunaler Risikovorsorge und Krisenmanagements
- Auf kommunaler Ebene ist die Stärkung der sozialen Gemeinschaften von zentraler Bedeutung. Hier sollte es darum gehen, ein Verständnis von der gemeinsamen Betroffenheit einer Bedrohung zu schaffen und Partizipationsmöglichkeiten zu fördern. Die Bevölkerung sollte befähigt werden, sich aktiv bei Krisen miteinzubringen. Dazu ist das Angebot der Zusammen-arbeit auf Augenhöhe entscheidend.
- Sich als Gemeinschaft zu begreifen und fähig zu sein, gemeinsam ein Ziel zu verfolgen, macht das jeweilige Sozialkapi-tal vor Ort aus. Ein hohes Sozialkapital ist ein wichtiger präventiver Faktor vor Ort. Insbesondere benachteiligte Stadtteile verfügen häufig über weniger Sozialkapital. Kommunen können identifizieren, wie hoch das jeweilige Sozialkapitel in spezifi-schen räumlichen Bereichen ist und dieses gezielt aktiv fördern.
- Verteilungsgerechtigkeit ist von hoher Relevanz, da das Gefühl, „Krisenverlierer:in“ zu sein, negative Folgen haben kann.
- Zur Sicherung insbesondere der kritischen Infrastruktur sollten sich die Kommunen ihrer Lieferketten und der zentra-len Akteur:innen vor Ort bewusst sein. Es sollten Kommunikationsketten, Krisenstäbe (mit zugewiesenen Verantwortungen) und Notfallpläne vorbereitet sein.
- Eine kommunale Krisenumgangskultur benötigt integratives und sektorenübergreifendes Denken und Handeln, ohne fachspezifisches Wissen zu vernachlässigen.
Prävention auf gesamtgesellschaftlicher Ebene
- Die Identifizierung von und der Umgang mit Krisen fußen auf subjektiven Einschätzungen und sind mit Wert- und Normvorstellungen verbunden. Dies sollte bei der Findung von Entscheidungen bewusst sein.
- In Krisen treten vorhandene gesellschaftliche Schieflagen und Benachteiligungen noch deutlicher hervor und tendieren dazu, sich zu verschärfen. Eine gute Sozialpolitik ist daher auch ein Baustein präventiven Krisenmanagements.
- Oftmals liegen verschiedene Einschätzungen und Empfehlungen von Expert:innen vor. Aus entscheidungstheoretischer Perspektive ist es nicht ratsam, nur der Mehrheitsmeinung zu folgen. Vielmehr muss das Risiko bzw. das Schadensausmaß betrachtet werden, wenn die Minderheitsmeinung recht hätte und nichts unternommen werden würde. Dies muss mit den Präventionskosten abgewogen werden. Vor diesem Hintergrund kann es auch rational sein, Minderheitsmeinungen zu fol-gen.
- Umso eher die Geschehnisse nachvollziehbar in ihren Ursachen und bezüglich der Handlungsoptionen sind, umso eher scheinen sie bewältigbar. Gerade bei systemischen Krisen ist dies jedoch aufgrund der Komplexität herausfordernd. Der Kri-senkommunikation kommt dabei mit der Aufgabe, die Ereignisse nachvollziehbar zu machen und Lösungen bzw. Maßnah-men zu erklären, ein besonderer Stellenwert zu. Hier ist auch die Organisation der Kommunikation zu optimieren.
- Fehlt es an einem Verständnis für die Krise, was insbesondere bei systemischen Krisen der Fall ist, kommt es vermehrt zu einer Schuldzuweisung gegenüber „dem Fremden“. Vorurteile und Diskriminierung nehmen zu. Antidemokratische und radikale Gruppierungen nutzen diese Momente gezielt, um mit Desinformationen und Verschwörungstheorien Zugehörigkei-ten und Identifikationen zu bieten und so ihren Einfluss zu erweitern.
- Krisenprävention muss abwägen, wie hoch die Kosten für Prävention sind und dies ins Verhältnis zum Risiko setzen. Hierbei können auch Opportunitätskosten anfallen, indem man durch Präventionsarbeit andere Bereiche vernachlässigt.
- In der Krisenprävention muss abgeschätzt werden, welche Gruppen und Personen besonders schutzwürdig (vulnera-bel) sind. Diese Entscheidungen sollten transparent erfolgen. Dabei sollte ein Bewusstsein dafür vorliegen, dass sich beste-hende Ungleichheiten insbesondere in Krisenzeiten leicht verstärken.
- Nicht zuletzt ist es notwendig, den Akteur:innen die Möglichkeit zur Reflexion ihres Krisenhandelns zu geben. Für eine kritische Auseinandersetzung mit den Strukturen, Prozessen und Maßnahmen der Krisenbewältigung sind die entsprechen-den Ressourcen bereitzustellen.
[1] Die Expertisen zum 28. Deutschen Präventionstag wurden konzipiert, koordiniert und mitverfasst von Prof. Dr. Gina Rosa Wollinger (Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen). Beigetragen haben: Prof. Dr. Rita Haverkamp, Prof. Dr. Christoph Gusy & Tjorven Harmsen (Universität Tübingen; Universität Bielefeld; Universität Freiburg); Dr. Pia-Johanna Schweizer (Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung Potsdam); Prof. Dr. Harald Dreßing (Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim); Dr. Donya Gilan & Dr. Isabella Helmreich (Leibniz-Institut für Resilienzforschung); Dr. Jan-Philip Maaß-Emden; Manuela Freiheit, Andreas Uhl & Prof. Dr. Andreas Zick (Institut für interdisziplinäre Konflikt und Gewaltforschung); Friedrich Gabel (Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften; Universität Tübingen); Dr. Nikil Mukerji, Marina Moreno & Adriano Mannino (Universität München; Solon Center for Policy Innovation GWUP); Prof. Dr. Alexander Fekete & Chris Hetkämper, Carlotta Bauer (Institut für Rettungsingenieurswesen und Gefahrenabwehr, TH Köln; Universität Berlin); Dr. Holger Floeting (urbacon. Ideen für Kommunen); Dr. Tim Lukas & Bo Tackenberg (Lehrstuhl für Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit, Universität Wuppertal).
www.praeventionstag.de