Die Zahl der physischen Angriffe auf Journalist:innen erneut im Vergleich zum Vorjahr gestiegen
Die Zahl der physischen Angriffe auf Journalist:innen stieg im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2022 wieder an. Nach 56 Fällen im Jahr 2022 verifizierte das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) 69 Fälle von physischen Angriffen auf Journalist:innen für 2023. Seit nun mehr vier Jahren befinden sich die neuen Zahlen von Angriffen auf Journalist:innen verglichen mit dem Aufkommen vor der Corona-Pandemie – durchschnittlich rund 23 Fälle pro Jahr zwischen 2015 und 2019 – auf einem hohen Niveau. Die Annahme, dass mit der Marginalisierung der Querdenker:innen-Bewegung und dem damit gekoppelten abnehmenden Versammlungsaufkommen auch die Zahl der Angriffe auf Journalist:innen in Deutschland sinkt, hat sich nicht bestätigt.
Berlin löst Sachsen als Spitzenreiter für 2023 bei den tätlichen Angriffen auf Journalist:innen im Vergleich zum Vorjahr ab. Zwar verzeichnete Sachsen mit 13 mehr als im Vorjahr (11 Fälle), jedoch weist Berlin mit 25 tätlichen Angriffen einen deutlich höheren Wert auf. Von den 25 Fällen ereigneten sich 21 im Umfeld pro-palästinensischer Demonstrationen. Danach folgten Bayern mit sechs Fällen.
Fokus Lokaljournalismus: Sicherheitsbedenken wirken sich auf kritische Berichterstattung aus
In Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) hat das ECPMF auch im vergangenen Jahr die Bedrohungslage des Lokaljournalismus beobachtet. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl physischer Angriffe auf Lokaljournalist:innen gesunken. Insgesamt wurden sieben physische und acht nicht-physische Angriffe registriert. Im Jahr 2022 lag die Anzahl physischer Angriffe noch bei 12. Einige der Lokaljournalist:innen, die 2023 Ziel von physischen und nicht-physischen Angriffen waren, waren auch in der Vergangenheit betroffen. Bereits in der letzten Studie wurde darauf hingewiesen, dass fehlende Anonymität im Lokalen ein Sicherheitsproblem für Lokaljournalist:innen darstellen kann.
In einer näheren Analyse des Bundeslandes Sachsen, die seit 2015 insgesamt ein Drittel aller registrierten Fälle (117 von 390) auf sich vereinte, zeigt sich ein bisher unbeleuchtetes Phänomen: Selbstzensur. Lokaljournalist:innen, die dort tätig sind, wo extrem rechte Raumaneignung im Lokalen erheblich fortgeschritten ist und in die sogenannte Mitte der Gesellschaft hineinreicht, berichten davon, dass bestimmte Themen vor Ort aufgrund einer wahrgenommenen permanenten Bedrohungslage ausgespart würden. Darüber hinaus sollte unbedingt weiter erforscht werden, wie ausgeprägt das Phänomen der Selbstzensur bereits ist und inwieweit sich diese Erfahrungsberichte auch auf andere Regionen in Sachsen und anderen Bundesländern verallgemeinern lassen, in denen die rechtsextreme Raumaneignung ebenfalls ausgeprägt ist und ein entsprechendes Wählermilieu sehr dominant ist.
Schwerpunkt Gegenmaßnahmen
Journalist:innen, Verbände, Medienhäuser und auch viele staatliche Institutionen haben mittlerweile als Reaktion auf die gestiegene letzte Bedrohungslage in den Jahren Gegenmaßnahmen entwickelt. Teilweise sind Lerneffekte zu beobachten. Während beispielsweise immer mehr Medienhäuser ihren Mitarbeitern:innen psychologische Beratungsangebote anbieten, initiieren Vereine und Verbände fortwährend neue Hilfsangebote, wie zB im vergangenen Jahr das Projekt Helpline. Auch der polizeiliche Medienschutz hat sich insgesamt tendenziell verbessert, wenn gleich dessen Qualität sehr unterschiedlich ausfallen kann. Die Gremien der Innenministerkonferenz befürworten nach wie vor eine Neufassung der Verhaltensgrundsätze für Polizei und Medien. Immer wieder berichten Journalist:innen von Fällen, in denen sie nicht ausreichend geschützt oder selbst Ziel polizeilicher Maßnahmen waren. Insgesamt besteht nach wie vor erheblicher Bedarf, existierende Angebote zu verbessern und weitere zu schaffen.
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