Studie zur Gewalt in der Sozialen Arbeit: Bessere Arbeitsbedingungen können zur Prävention beitragen
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Seit vergangenem Jahr mehren sich Medienberichte über Gewalt von Beschäftigten der Sozialen Arbeit gegenüber ihren Adressat*innen. Wie groß schätzen die Beschäftigten das Ausmaß an Gewalt in ihren Einrichtungen ein? Und lassen sich Zusammenhänge mit den Arbeitsbedingungen herstellen? Für eine im Fachmagazin „Sozial extra“ erschienene Studie wertete der Professionsforscher Professor Dr. Nikolaus Meyer von der Hochschule Fulda mehr als 8.200 Online-Fragebogen aus. Die Ergebnisse legen nahe: Die Arbeitsbedingungen müssen sich verändern, um Gewalt vorzubeugen. Dafür plädiert auch seine Kollegin Professorin Dr. Regina Remsperger-Kehm, die unter anderem zu verletzendem Verhalten in Kitas forscht.
Die Studie untersucht, wie Beschäftigte aus unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit psychische und physische Gewalt durch und gegen Adressat*innen vor und während der Corona-Pandemie wahrgenommen haben. Ein besonderer Fokus liegt auf einem möglichen Zusammenhang zwischen sich verschlechternden Arbeitsbedingungen und Gewalt gegenüber Adressat*innen sowie anderen Dimensionen des Arbeitsalltags. Die Daten stammen aus der dritten Online-Befragung von Beschäftigten in der Sozialen Arbeit, die im November 2022, gut einen Monat nach Rücknahme der meisten Schutzmaßnahmen, durchgeführt wurde.
„Jeder Fall physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt oder entsprechender Mischformen stellt einen Bruch professioneller Normen dar und steht im Widerspruch zum professionellen Grundverständnis der Sozialen Arbeit, das eine gewaltfreie, anerkennende und feinfühlige Arbeitsbeziehung vorsieht“, stellt Professor Meyer klar und betont: „Sowohl die Berufsgruppe als auch die Öffentlichkeit sind gefordert, solche Fälle aufzuarbeiten.“
Beschäftigte nehmen mehr Gewalt an Adressat*innen wahr
37,1 Prozent der Befragten (n=5.885) berichten von psychischer Gewalt durch Beschäftigte gegenüber Adressat*innen vor Ausbruch der Pandemie. Damit ist unter anderem gemeint: Bevormunden, Niederbrüllen, Ignorieren, Drohen und Beschimpfen. Während der Pandemie steigt die Quote um elf Prozent auf 41,5 Prozent (n=5.661) an.
Auch von physischer Gewalt gegenüber Adressat*innen berichten die Beschäftigten. In der Studie zählen hierzu unter anderem Schupsen, hartes Anpacken und Schütteln sowie schwere Formen wie Fixieren. Auch hier steigen die Werte während der Pandemie an, und zwar deutlich um über zehn Prozent auf 24,7 Prozent.
Für beide Gewaltformen zeigt die genauere Analyse: Das Ausmaß an Gewalt gegenüber Adressat*innen ist in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit unterschiedlich groß. Besonders häufig sind psychische wie physische Gewalt in der sogenannten Behinderten- sowie der Suchthilfe, in der Arbeit mit arbeitslosen Menschen, der Elementarbildung, der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der migrationsbezogenen Sozialen Arbeit. Damit deutet sich ein starker Zusammenhang zwischen psychischer und physischer Gewalt an. Und: Betroffen sind besonders verletzliche Adressat*innen-Gruppen.
Zusammenhang: Verzicht auf Pausen und Zahl der Konflikte
Eine frühere Auswertung der Befragungsdaten hatte bereits gezeigt, dass die Arbeitsbelastung in der Sozialen Arbeit während der Corona-Pandemie deutlich gestiegen ist. Mehr Adressat*innen, komplexere Problemlagen, höhere Personalfluktuation führen dazu, dass immer mehr Beschäftigte am persönlichen Limit arbeiten. In der höheren Arbeitsmenge aufgrund fehlender Kolleginnen sehen die Beschäftigten eine der Hauptursachen für die Arbeitsverdichtung.
„Wir erkennen zwar keine signifikanten Zusammenhänge zwischen gewalttätigen Situationen auf der einen und der Arbeitsmenge, komplexeren Fallkonstellationen und fehlendem Personal auf der anderen Seite. Aber wir können durchaus Zusammenhänge zwischen dem Verzicht auf gesetzlich festgelegte Pausen und einer hohen Zahl an Konflikten bzw. aggressivem Verhalten der Adressatinnen nachweisen“, erläutert Professor Meyer. „Unsere Daten deuten damit eine Verbindung zwischen den empfundenen Arbeitsbedingungen und der erlebten Gewalt in Einrichtungen an. Die steigende Belastung durch widrige Arbeitsbedingungen steht statistisch in einem mittleren Zusammenhang mit der Zahl der Konflikte und mit aggressivem Verhalten.“
Konflikten folgen Taten
Dieser Befund passt zu früheren Studien, die einen deutlichen Zusammenhang zwischen beruflichen Belastungen und der Zahl der Konflikte nachweisen. „Gewalt in Einrichtungen der Sozialen Arbeit ist aus dieser Perspektive das Ergebnis einer steigenden Zahl an Konflikten und einer sich hochschaukelnden aggressiven Stimmung, der dann von beiden Seiten irgendwann Taten folgen“, betont Professor Meyer und stellt sich damit in eine Reihe mit Wissenschaftler*innen, die bereits auf Zusammenhänge zwischen gewaltförmigen Konstellationen in Einrichtungen der Sozialen Arbeit und hohen Belastungswerten aufgrund widriger Arbeitsbedingungen verwiesen haben. „Worte stehen am Anfang von Akten der Gewalt“, ist er überzeugt. Und Professorin Dr. Regina Remsperger-Kehm, die an der Hochschule Fulda die Professur für Frühkindliche Bildung innehat, ergänzt: „Der Fachkräftemangel stärkt gewaltfördernde Mechanismen. Deshalb ist es wichtig, neben Gewaltschutzkonzepten auch die Arbeitsbedingungen in den Blick zu nehmen.“
Keine Lösung: Fachfremdes Personal
Gemeinsam haben die Fuldaer Forschenden zehn Forderungen zur Prävention von Gewalt in der Sozialen Arbeit aufgestellt. Unter anderem fordern sie eine Bund-Länder-Konferenz, um Maßnahmen zur Behebung des Fachkräftemangels in der Sozialen Arbeit, insbesondere in Kindertageseinrichtungen, der Jugendhilfe und der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigung, zu entwickeln. „Wir wissen, dass eine kurzfristige Lösung unter Beibehaltung professioneller Qualitätsstandards kaum möglich ist“, sagt Meyer. „Dennoch sehen wir in der Gewinnung fachfremden Personals, wie es für die Kinder- und Jugendhilfe in einigen Bundesländern bereits diskutiert wird, keine Lösung.“
Dass gewaltförmige Konstellationen oftmals auch das Resultat fehlender oder mangelnder pädagogischer Ausbildung seien, habe die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in Kinderheimen gezeigt. Fachkräfte müssten vielmehr für Gefahren sensibilisiert und durch berufsethische Regelungen an entsprechende Standards gebunden werden. Staatliche Stellen sehen die beiden Wissenschaftler*innen ebenso in der Pflicht wie die Gesellschaft insgesamt: „Wir müssen uns über die Rolle und Bedeutung Sozialer Arbeit verständigen“, fordern sie, denn die täglichen Dilemmata zwischen Personalmangel auf der einen und der Verantwortung der Fachkräfte zum Beispiel für individuell am Kind orientierte Bildungsprozesse und den Kinderschutz auf der anderen Seite seien kaum noch zu bearbeiten.
www.praeventionstag.de